«Nach den Corona-Erfahrungen: Was müssen wir als Anthroposophische Gesellschaft lernen?»
Vorbemerkung
Am 29. März 2022 fand ein Mitgliederforum am Goetheanum zu den Erfahrungen im Umgang mit Corona statt. Dazu hiess es in der Einladung:
«Der Zusammenhalt in einer Gesellschaft wie der Anthroposophischen zeigt sich auch darin, wie wir zusammenwirken und wie wir uns bei unterschiedlichen, ja polaren Auffassungen verständigen. Wir laden Sie daher herzlich ein, zum Thema ‹Nach den Corona-Erfahrungen: Was müssen wir als Anthroposophische Gesellschaft lernen?› ins Gespräch zu kommen. Wir möchten erfahren, wie Sie den Umgang mit den Corona-Massnahmen erlebt haben und wie wir Wege finden, um auch in Gegensätzen doch miteinander eine gemeinsame Zukunft zu bauen. Dazu findet ein Mitglieder-Forum am 29. März 2022, 20 Uhr in der Rudolf-Steiner-Halde statt.»
Es hatten sich knapp 60 Menschen eingefunden und es entstand recht bald ein lebhaftes Gespräch. Angesichts der bevorstehenden Generalversammlung mit doch brisanten Themen kamen auch die Fragen zum Umgang mit dem «Weleda-Besitz» der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft zur Sprache.
An dieser Stelle eine wichtige Information zum Antrag des Vorstandes: Dieser Antrag soll in der Richtung verändert werden, dass an der kommenden Generalversammlung zwar ein Richtungs-Entscheid, jedoch noch kein endgültiger Beschluss gefasst werden soll. Dieser soll an einer ausserordentlichen Generalversammlung in der 2. Jahreshälfte 2022 erfolgen, sofern ein entsprechender Richtungsentscheid jetzt am 9. April 2022 von der Mitgliedschaft gefasst wird.
Angesichts der bevorstehenden Generalversammlung und der begrenzten Zeit, soll nun am kommenden Montag, den 4. April 2022, um 20 Uhr ein weiterer Gesprächsabend ausschliesslichen zum Thema «Weleda» stattfinden.
Nachfolgend ein erster Stimmungsbericht von Eva Lohmann-Heck aus der gestrigen Veranstaltung.
Nachklang zum Prozess und Zukunftsfragen
Sehr wichtig und anregend erlebte ich den gestrigen Mitglieder-Abend in der Halde. Wie immer in solchen Zusammenkünften lebt der Wunsch und die Hoffnung auf Verständigung und einen fruchtbaren Austausch. Deutlich wurde auch in den Beiträgen das Bemühen, dies zu ermöglichen, herzlichen Dank in dieser Hinsicht auch an Ronald Templeton für seine Gesprächsleitung!
Selbstverständlich sollte es möglich sein in einer Anthroposophischen Gesellschaft, dass im Sozialen alle Sichtweisen und Auffassungen ihre Berechtigung haben und leben dürfen, zumal man voraussetzen kann, dass alle auf der Suche nach einer Erkenntnis der Wahrheit und Wirklichkeit streben.
Im Konkreten stehen wir immer aufs Neue vor der Aufgabe, wenn sich die Sichtweisen sehr unterscheiden, wie man nicht nur zu einem Sich-Geltenlassen in den Verschiedenheiten kommt – womit ja bereits eine wichtige Qualität erreicht wäre – sondern wie ein echtes Erkenntnis-Gespräch möglich werden kann? – Zu den Voraussetzungen gehören selbstverständlich Qualitäten und soziale Fähigkeiten, wie z.B. das Interesse an den Gedanken des anderen und an dem, was im anderen lebt, Wohlwollen und „allgemeine Menschenliebe“, das schlichte Sich-Ausreden lassen – und die Toleranz gegenüber „menschlichen Schwächen“ (– der eine spricht zu leise, der andere zu laut, einer zu langsam, der andere zu schnell usw.…). Diese Qualitäten habe ich auch an gestrigen Abend erlebt. Es wurden die mitgebrachten Fragen und Themen kurz dargestellt, eine schöne Vielfalt ergab sich, im Laufe des Gespräches wurden natürlich auch die Unterschiede immer deutlicher. Jemand brachte zu Recht zum Ausdruck, wie unmöglich es sei, wenn man vom anderen nicht nur ein Denken sondern auch ein Handeln erwartet oder gar fordert im eigenen Sinne.
Meist enden die Veranstaltungen in diesem Nebeneinander –Stehenlassen der Meinungen. In diesem Falle ist eine Fortsetzung geplant für den kommenden Montag. Die Stimmung blieb konstruktiv und ich hatte den Eindruck, dass doch mit offenem Herzen alles wahrgenommen worden war. Am Montag wird es konkret nochmals um das Thema Weleda gehen, um die offenen Fragen bzw. um etwaige Missverständnisse zu klären. Dann werden wir uns voraussichtlich in kleinerem Kreise und, wenn andere hinzukommen, in einer neuen Zusammensetzung wieder finden. Damit beginnt ein neuer Prozess.
Es werden womöglich erneut sehr unterschiedliche Denk- und Willensrichtungen zu Tage treten und die verschiedenen Sichtweisen nebeneinander „im Raum“ stehen, was dann? Dazu einige grundsätzliche Gedanken, zu der Frage, wie gegensätzlichen Auffassungen künftig in einen echten gemeinsamen Erkenntnisprozess übergeführt werden könnten. Ein erster Schritt hierzu könnte sein, so meine Erfahrung, sich darüber zu verständigen, auf Grund welcher Informationen oder Kenntnisse man zu seinem Urteil gekommen ist. Welches sind die Fakten bzw. Informationsquellen? Am Beispiel der Corona-Zeit: Wenn ich weiss, dass der andere sein Wissen ausschliesslich aus der Tageschau und der Tagespresse bezieht, auf den „Faktencheck“ vertraut und dort meine Aussagen überprüfen und widerlegen lässt, so kann ich wissen, dass er zu anderen Urteilen kommen m u s s als ich. – Und wem in unseren Zusammenhängen die Aussagen Rudolf Steiners über das Impfen oder die Hintergründe der Weltpolitik, die Ziele der Gegenmächte usw. unbekannt sind, der muss ebenfalls zu anderen Urteilen über das Zeitgeschehen kommen als ich. Konkret zum Thema Weleda: Welches sind die Gründe für die geplante Ausgliederung und welches die gesetzlichen Vorgaben, welche dies erfordern? Wie wird die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft als Hauptaktionärin gesehen sowie die Aufgabe des Vorstandes als ihr Vertreter im Verwaltungsrat der Weleda? – Vielleicht treten schon hier unterschiedliche Auffassungen zu Tage, die letztlich auf die noch grössere Frage zurückführen, welche gestern Abend ebenfalls geäussert wurde: Wie ist „unser“ Bild beziehungsweise welche Bilder leben von der Aufgabe der AAG? Rudolf Steiner sprach von dem dringend notwendigen gemeinsamen Aufgabenbewusstsein. Müssten wir diese Aufgabe nicht gemeinsam finden und formulieren? Dies kann keinesfalls die Aufgabe des Vorstandes ohne die Mitgliedschaft sein!
Im Falle einer Gesprächsrunde zwischen Mitgliedern, Vorständen und Sektionsleitern kommt auch noch die ungleiche Rollen – und Aufgabenverteilung hinzu. Denn um in ein echtes Erkenntnisgespräch zu kommen, darf es keinen Handlungs-und Ergebnisdruck geben, nur echtes Interesse an der Wahrheit bzw. in diesem Falle an der Weleda und ihrer Aufgabe sowie die Verantwortung der AAG in Bezug auf die Entwicklungsrichtung dieses Unternehmens. Justus Wittich sprach auch von Missverständnissen, die es in der Kommunikation gab und dass man den Mitgliedern das Vorhaben besser erläutern müsste. (Leider erinnert mich dies etwas an die Aussagen von Politikern, man müsse der Bevölkerung die geplanten Massnahmen nur besser erklären….) Die Weichen sind gestellt und die Entschlüsse gefasst, insofern wäre es gut, sich in Bezug auf den kommenden Montag realistische Ziele zu setzen, angesichts des fortgeschrittenen Stadiums des Prozesses, jedoch auch sich ins Bewusstsein zu rufen, dass die Letztverantwortung bei den Mitgliedern liegt.
Die Wahrnehmung der Mitglieder-Ansichten in Fragen von solcher Tragweite in einer gemeinsame Bildgestaltung vor der Beschlussfassung wäre da im Sinne anthroposophischer Arbeitsmethodik vielleicht ein Weg für die Zukunft?
Ich glaube, es würde viel Zeit und Kräfte sparen, wenn wir uns zuerst über unsere Erkenntnisgrundlagen verständigen würden im oben beschriebenen Sinne. Dies wäre jedoch nur der erste Schritt, er garantiert noch keineswegs, dass man zum gleichen Urteil kommt. Denn unsere Verschiedenheiten reichen selbstverständlich tiefer und weiter, nämlich in unsere charakterologischen Anlagen und – unbewussten Interessen, Neigungen und Intentionen. Diese immer mehr ins Bewusstsein zu heben ist Aufgabe der Schulung und ein langer Weg…
Soziale Gestaltung
Ich sehe kein Problem darin, wenn in unserer Gesellschaft unterschiedliche Auffassungen nebeneinander bestehen – das ist normal und gehört zu einem freien Geistesleben. Ein Problem entsteht erst, wenn nur ein Teil dieser Sichtweisen die Möglichkeit erhält, sich allen anderen und der Öffentlichkeit mitzuteilen, sprich, wenn zufälligerweise nur diejenigen Repräsentanten der AAG oder Institutionen sich öffentlich in der Wochenschrift und in AWW äussern können, deren Sichtweisen im Einklang stehen mit den politischen mainstream- Medien. Auch wenn die Beiträge – wie von Ueli Hurter betont wurde – individuell entstanden sind, gingen sie doch alle in die gleiche Richtung.
So wurden andersartige Sichtweisen unterdrückt – genauso wie in der Politik – und ein wissenschaftlicher Austausch wurde ebenfalls vermieden – genauso wie in der Politik. – Noch vor 20 Jahren gab es die Möglichkeit zu ausführlichen Stellungnahmen und über mehrere Ausgaben der Wochenschrift sich erstreckende inhaltliche Debatten! Das wäre echte Einbeziehung der Mitgliedschaft und würde der Urteilsbildung dienen. – Nun werden Sie sagen: Jeder kann sich doch per Leserbrief äussern! Das stimmt auch nicht. Kleine Erfahrung vor Jahren: Auf meinen Lesebrief erhielt ich erst auf mehrere Nachfragen hin nach Wochen eine Antwort, und in der hiess es, es gab leider zu viele Leserbriefe – und nun sei das Thema ja vorbei. Zahlreiche Leserbriefe zeugen doch eigentlich von einer interessierten Mitgliedschaft! Wenn man sie jedoch dermassen „einschränkt“ oder ausgrenzt in den Möglichkeiten, sich wahrzunehmen und einzubringen, muss man sich nicht wundern, wenn sie weniger werden.…oder kritischer.
Nun würde ich keineswegs eine Lösung darin sehen, die derzeit Leitenden auszuwechseln und andere zu „installieren“ – die dann ihrerseits wieder, um handlungsfähig zu sein, Andersdenkende sich vom Halse halten müssen, die aus der Flut von Emails ihre Auswahl treffen und die Mehrzahl unbeantwortet lassen – vor allem die unangenehmen Nachfragen – und ihre Entscheidungen in ihrem Kreise ohne Transparenz hinter verschlossenen Türen fällen. – Dann dienen Mitglieder-Abende dem Ziel, dass alle mal „Dampf ablassen können, damit man anschliessend in Ruhe weiterarbeiten kann“ (Zitat eines Vorstandsmitgliedes vor Jahren). – Und ehrlich gesagt – ich kann es sogar ein wenig nachvollziehen. Nur glaube ich nicht, dass eine derart geleitete Gesellschaft zukunftsfähig oder gar ein Kulturfaktor werden kann, und erst recht nicht eine wahrhaft anthroposophische Gesellschaft sein KANN!
Nein, ich sehe vielmehr das Problem in den Strukturen unserer AAG selbst. Und damit in einem viel grösseren Problem, dass nur langfristig zu lösen sein würde! Solange wir nicht alle vollkommen selbstlos und geläutert sind, brauchen wir Sozialformen, welche diesen unseren Einseitigkeiten Rechnung tragen. Es kann kein Mensch, auch nicht eine kleine Gruppe, die Rolle Rudolf Steiners übernehmen und eine Gesellschaft mit über 40.000 Mitgliedern in einer zeitgemässen Form leiten. Nur er konnte als Eingeweihter die Menschen wahrhaft erkennen, ihr tiefstes Wesen, ihre karmischen Voraussetzungen, ihre Fähigkeiten und Zielrichtungen. In einer modernen anthroposophischen Gesellschaft müsste eine Fähigkeiten-Hierarchie entstehen, damit jeder seine Aufgabe seinen Kräften und Fähigkeiten gemäss erfüllen kann. (Wege hierfür wären gemeinsam zu suchen!) Stattdessen haben wir ein – Verzeihung – Cliquenwesen! Wo wie in der Politik Ämter vergeben werden nach persönlicher Nähe und Bekanntschaft, Sympathie und karmischer Verbundenheit, nicht jedoch unbedingt nach Fähigkeiten, denn man kann ja gar nicht alle Fähigen und Geeigneten erkennen – allein schon auf Grund der Anzahl und – der karmisch gefärbten Brille oder Blindheit. Unsere Gesellschaft müsste wenigstens im Sinne des dreigliedrigen Menschen ein freies Geisteslegen ermöglichen und die Gleichheit im Rechtlich-Sozialen, was sich z.B. darin ausdrücken würde, dass inhaltliche Darstellungen von Mitgliedern in einer Wochenschrift Raum gegeben wird und auch auf einer Generalversammlung die Redezeit nicht nur für Vorstände und Leitende relativ unbegrenzt ist. – Natürlich müsste man machbare Formen finden! Und doch – unter Rudolf Steiners Leitung war es noch so: Die GV dauerte so lange, wie es notwendig war, um allen Gehör zu schenken und Konflikte zu lösen,… nämlich über eine Woche lang. (Klingt natürlich völlig utopisch, macht aber etwas deutlich!)
Ungesunde soziale Gestaltungen müssen zu Unfrieden führen – und schwächen doch letztlich dadurch alle, vor allem die AAG und die Anthroposophie, welche in ihr leben können sollte! – Die Sozialgestaltung ist die höchste der sieben Künste, Rudolf Steiner nennt sie die königliche Kunst. Der Tempelbau im Sozialen ist die wahre Aufgabe der Anthroposophie – und der AAG?
Wenn wir uns am Montag wiedersehen, stellt sich die Frage, wie kann es zu einem wirklich fruchtbaren Dialog kommen? Nur in einem ergebnisoffenen Gespräch und gemeinsamer Suche nach dem richtigen Weg.
Wir haben (bisher) nur diese eine Gesellschaft, aber sie ist ein gemischter König. Das dient nur den Gegenmächten. Endlich beginnen, sie zu heilen und verwandeln würde ich als die wichtigste Aufgabe nach 3 x 33 Jahren Brand und Weihnachtstagung sehen!
Eva Lohmann-Heck, 30.März 2022