Was in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft noch vorgeht

Nein, gewiss nicht. Gerne wird darauf hingewiesen, dass Rudolf Steiner vor jedem Radikalismus in dieser Hinsicht, dem «fanatischen Sichstellen gegen diese Dinge» gewarnt habe. Ausserdem wird bisweilen darauf hingewiesen, dass er sich selber habe gegen Pocken impfen lassen. Bei diesem Hinweis wird es zumeist belassen, um auch mit Rudolf Steiner im Hintergrund eine positive Einstellung zur Impfung gegen SARS-CoV-2 rechtfertigen zu können. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese selektive Zitierung jedoch als nicht haltbar. Allerdings lassen sich schon seine Ausführungen zur Ansteckung nicht mit den derzeit vertretenen Annahmen in Einklang bringen, darauf wurde bereits hingewiesen.[1]

Schauen wir uns das Zitat[2] genauer an:

„Und die Pockenimpfung? Da ist man in einem eigentümlichen Fall. Sehen Sie, wenn man jemand impft, und man hat den Betreffenden als Anthroposophen und erzieht ihn anthroposophisch, so schadet es nichts. Es schadet nur denjenigen, die mit vorzugsweise materialistischen Gedanken heranwachsen. Da wird das Impfen zu einer Art ahrimanischer Kraft; der Mensch kann sich nicht mehr erheben aus einem gewissen materialistischen Fühlen. Und das ist doch eigentlich das Bedenkliche an der Pockenimpfung, daß die Menschen geradezu mit einem Phantom durchkleidet werden. Der Mensch hat ein Phantom, das ihn verhindert, die seelischen Entitäten so weit loszukriegen vom physischen Organismus wie im normalen Bewußtsein. Er wird konstitutionell materialistisch, er kann sich nicht mehr erheben zum Geistigen. Das ist das Bedenkliche bei der Impfung. Natürlich handelt es sich darum, daß da die Statistik immer ins Feld geführt wird. Es ist die Frage, ob eben gerade in diesen Dingen auf die Statistik so viel Wert gelegt werden muß. Bei der Pockenimpfung handelt es sich sehr stark um etwas Psychisches. Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß da der Glaube, daß die Impfung hilft, eine unberechenbar große Rolle spielt. Wenn man diesen Glauben durch etwas anderes ersetzen würde, wenn man naturgemäß erziehen würde die Menschen, so daß sie beeindruckbar wären durch etwas anderes als dadurch, daß man sie impft, etwa dadurch, daß man die Menschen wiederum an den Geist näher heranbrächte, so wäre es durchaus möglich, daß man gegen das unbewußte Hereindringen: hier ist Pockenepidemie! – durch vollständiges Bewußtsein davon: hier ist ein Geistiges, wenn auch ein unberechtigtes Geistiges, gegen das ich mich aufrechthalten muß! -ebenso gut wirken würde, wie man überhaupt den Menschen stark machen müßte gegen solche Einflüsse.“

Frage: „Wenn die Verhältnisse so liegen, wie zum Beispiel in unserer Gegend, wo die Einwirkung durch die Erziehung und so weiter sehr schwierig ist, wie soll man sich da verhalten?“

Rudolf Steiner: „Da muß man eben impfen. Es bleibt nichts anderes übrig. Denn das fanatische Sichstellen gegen diese Dinge ist dasjenige, was ich, nicht aus medizinischen, aber aus allgemein anthroposophischen Gründen, ganz und gar nicht empfehlen würde. Die fanatische Stellungnahme gegen diese Dinge ist nicht das, was wir anstreben, sondern wir wollen durch Einsicht die Dinge im Großen anders machen. Ich habe das immer, wenn ich mit Ärzten befreundet war, als etwas zu Bekämpfendes angesehen, zum Beispiel bei Dr. Asch, der absolut nicht geimpft hat. Ich habe das immer bekämpft. Denn wenn er nicht impft, so impft eben ein anderer. Es ist ein völliges Unding, so im Einzelnen fanatisch vorzugehen.“

Zunächst zu den schwarzen Pocken. Diese gelten ebenfalls als eine virale Erkrankung. Diese aber mit einer Grippe oder Covid-19 zu vergleichen ist nicht angemessen. Der erste Versuch einer Immunisierung erfolgte bereits 1717 mittels „Variolation“.[3] Dazu entnahm man Material von einer Pocke und ritzte davon eine geringe Menge in die Haut einer anderen Person. Deutlich war, dass dadurch die Krankheit übertragen werden konnte und diese auch wiederum ansteckend war. Damit ist ein durchaus respektabler Hinweis gegeben, dass den Pocken ein Krankheitserreger zugrunde liegt. Vollkommen gegenteilige Erfahrungen machte man 1918, als man mit ähnlichen Methoden versuchte Ansteckungen mit Grippe künstlich vorzunehmen. Nichts davon gelang. (Es kann nur dringend empfohlen werden, sich mit den Tatsachen der Spanischen Grippe zu beschäftigen, da immer wieder Bezüge zu heutigen Situation gezogen werden. Mit Wikipedia kommt man allerdings nicht weiter.[4]) Dies reicht natürlich nicht als wissenschaftlicher Nachweis, korrespondiert jedoch auffallend mit Rudolf Steiner Angaben, gerade in Bezug auf die Ansteckung mit Grippe. Deutlich ist damit, dass die Aussage zur Impfung in Bezug auf die Pocken keineswegs einfach auf die Grippe oder jetzt Corona übertragen werden kann.

Eine Aussage wie diese: „wenn er nicht impft, dann impft eben ein anderer“ von Rudolf Steiner ist unerwartet. Es kann doch nicht sein, dass man etwas tut, nur weil es sonst ein anderer täte? Angesichts der von ihm selber beschriebenen erheblichen Auswirkungen der Pockenimpfung kann er das so nicht gemeint haben. Irritieren kann auch, dass er sich selber habe auch gegen Pocken impfen lassen. So berichtet Hedda Hummel, eine wichtige Stenographin:

„Bekanntlich hatte die  Gesellschaft damals einen Kinderhort eingerichtet. In Berlin waren an einer Ecke die Pocken ausgebrochen. So viel ich mich erinnere, wurden in den Schulen und Kinderhorten die Kinder geimpft. Dr. Steiner ordnete an, dass auch die Kinder in unserem Kinderhort geimpft würden und auch die Menschen, die im Kinderhort aus- und eingingen. Dr. Steiner selbst ließ sich auch impfen, auch Frau Dr. Steiner und auch wir alle oder fast alle, die im Hause aus- und eingingen. Dr. Steiner bekam selbst einen schlimmen Arm, die Pocken schlugen an, wie man sagt. Es ging damals der Witz rund, Dr. Steiner mache die Frauenbewegung mit – die darin bestand, dass wir alle, meistens Frauen, eben oft den kranken Arm gerieben haben.“

Wirklich verständlich wird dies allerdings erst, wenn man einbezieht, dass es damals im Deutschen Reich eine Impfpflicht gegen Pocken gab (im Gegensatz zu Österreich, daher war Rudolf Steiner offensichtlich nicht als Kind geimpft worden):

„Obgleich die Pocken also ihr Gefährdungspotenzial verloren hatten und die „Gewissensbedrängnis“ der Zwangsimpfungen in der „Tagespresse und in Volksversammlungen“  immer häufiger Anlass zu heftiger Kritik bot, stand der Impfzwang im Deutschen Reich nicht zur Disposition, im Gegenteil: Seit Ausrufung der Republik wurden Pockenschutzimpfungen rigider denn je durchgesetzt.“[5]

Auch wenn nicht überliefert ist, wann diese Impfungen erfolgten, kann davon ausgegangen werden, dass es sich um eine behördliche Massnahme gehandelt hat. So wird die Aussage verständlich, denn die Kinder mussten geimpft werden und wenn der eine Arzt das nicht durchführen wollte, nun, dann musste es eben ein anderer tun.

Mit diesem Hintergrund dürft nun klar sein, dass dieses Zitat von Rudolf Steiner vollkommen ungeeignet ist, ein Impfen gegen Covid-19 zu befürworten.


[1]  Siehe mein Rundbrief Nr. 28, https://wtg-99.com/Rundbrief_28.

[2]  GA 314, 287f.

[3]  Dr. Suzanne Hupfries, Roman Bystrianyk, ”Die Impfillusion”, Rottenburg, 2020, S. 77ff.

[4]  Engelbrecht/Köhnlein, aaO, S. 254f. und Impfreport, Seite 4, https://www.impf-report.de/download/impf-report_2005.pdf.

[5]  Malte Thießen, „Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“. Impfen als Biopolitik und soziale Praxis vom Kaiserreich zur Bundesrepublik“, Oldenbourg Wissenschaftsverlag | 2013           https://www.degruyter.com/document/doi/10.1524/vfzg.2013.0002/html

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