Was in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft noch vorgeht

Alternative Beschlussvorlage zu Anträgen 6.1 und 6.2:

Die Mitgliederversammlung 2024 der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft empfiehlt, bei zukünftigen Konstitutionsprozessen die Einführung eines Delegiertensystems sowie die Einführung konsultativer Abstimmungen in Mitgliederversammlungen, ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

Mit diesem Votum wird in wesentlichen Teilen dem ursprünglichen Antrag Uwe Werners entsprochen, ohne jedoch dessen Ansichten, Argumentationen und Begründungen zu folgen.

Begründung

Es erscheint absolut berechtigt, Überlegungen anzustellen, wie Gesellschaftsbeschlüsse auf eine breitere Basis gestellt werden können. Insofern ist gegen ein Delegiertensystem oder weltweite Abstimmungen nicht grundsätzlich etwas einzuwenden, sofern die gesellschaftlichen und sozialen Voraussetzungen dafür gegeben sind, z.B. in ausreichender Berichterstattung und freier Kommunikation der Mitgliedschaft untereinander. Solange die notwendigen Voraussetzungen nicht gegeben sind, kann von der Mitgliederversammlung eine notwendige Zustimmung nicht erwartet werden.

Uwe Werner begründet seinen Antrag im Wesentlichen mit vermeintlichen Absichten Rudolf Steiners, was jedoch in Frage zu stellen ist:

Kann es wirklich sein, dass erst nach 100 entdeckt worden sei, dass Rudolf Steiner «eine urdemokratisch legitimierte jährliche Mitgliederversammlung (Generalversammlung) der Weltgesellschaft auf der Basis des Delegiertenprinzips»[1] (so Uwe Werner) im Sinn gehabt haben soll? Die von Uwe Werner angeführten Äusserungen[2] Rudolf Steiners standen nicht im Zusammenhang mit Beschlussfassungen und wurden lediglich an der Weihnachtstagung geäussert – vor den ca. 800 anwesenden Mitgliedern bzw. den Schweizer Delegierten. «Für Rudolf Steiner waren die jährlichen Mitgliederversammlungen als Delegiertenversammlungen eine Selbstverständlichkeit.», so die Ansicht Uwe Werners. Eine erstaunliche Annahme, denn über eine Angelegenheit dieser Tragweite hätte Rudolf Steiner gewiss auch die nicht an der Weihnachtstagung anwesenden ca. 11.000 Mitglieder informiert. Aber nichts in dieser Richtung findet sich in seinen Berichten, Briefen und sonstigen Ausführungen nach der Weihnachtstagung, absolut nichts. Was Uwe Werner nicht erwähnt: In Rudolf Steiners «Entwurf einer Geschäftsordnung» (Beiheft zu GA 260a, S. 4f.) heisst es: «4. In allen Versammlungen der Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach führt der Leiter der Anthroposophischen Gesellschaft den Vorsitz. Bei Abstimmungen hat jedes Mitglied der Gesellschaft eine Stimme. Bei Delegierten-Versammlungen wird das Stimmrecht durch den Vorsitzenden jeweils bei Beginn der Versammlung festgestellt.» Alle Versammlungen sind alle Versammlungen und in den Statuten ist keine Rede davon, dass die Jahresversammlungen als Delegierten-Versammlungen in diesem Sinne hätten stattfinden sollen. Dass es die Aufgabe der Delegierten gewesen wäre, in beide Richtungen zu berichten, ist keine Frage. Und so gibt es keinerlei Hinweise, dass in irgendeiner Weise Stimmrechte an Delegierte hätten übertragen werden sollen und einzelne Mitglieder kein Stimmrecht gehabt hätten oder nicht hätten haben sollen.

Bei den von Uwe Werner vorgebrachten Argumenten und Belegen für seine Thesen (die er auch selber lediglich als Thesen bezeichnet) handelt es sich weitgehend um Ansichten und Interpretationen, die zum Teil dazu führen, Rudolf Steiner – gewiss unbeabsichtigt – unüberlegtes und intransparentes Handeln zu unterstellen.

So sei die Weihnachtstagungs-Gesellschaft von Rudolf Steiner bewusst nicht als rechtfähiger Verein begründet worden – was absolut zutreffend ist.[3] Er habe dann aber am 29. Juni 1924 diese ins Handelsregister eintragen lassen wollen, wozu jedoch die Vereinsform Voraussetzung gewesen wäre. Und so unterstellt Uwe Werner Rudolf Steiner auch explizit unüberlegtes Vorgehen und bringt dies zum Ausdruck: «Dieser Rechtsvorgang war nicht gut vorbereitet worden und scheiterte dann vor allem deshalb, weil alles Vereinsmässige im Statut der Gesellschaft fehlte.»[4] Das soll Rudolf Steiner übersehen haben? Welch eine Aussage, sollte doch alles Vereinsmässige aus den Versammlungen herausgehalten werden – schon seit 1912!!! Sollten Uwe Werners Ansichten zum 29. Juni 1924 tatsächlich Rudolf Steiners Absichten entsprochen haben, wären die von ihm an diesem Tag formulierten Statuten für diesen Zweck allerdings vollkommen widersinnig und ungeeignet gewesen.

War Rudolf Steiner wirklich ein Dilettant in diesen Dingen? Kann man ernsthaft annehmen, dass er derartig unüberlegt und intransparent gehandelt hat und auch die Mitgliedschaft über seine tatsächlichen Absichten nicht genügend informierte? Macht es Sinn, wenn die Statuten der Weihnachtstagung Mitgliederanträge explizit erwähnen – eine Abstimmung aber Delegierten vorbehalten sein soll, ohne dass dies erwähnt wurde?

Auch wenn Uwe Werners Annahmen und Thesen sehr ausführlich und umfangreich sind, erscheinen diese jedoch selber in wesentlichen Aspekten unüberlegt, in ihren Konsequenzen nicht zu Ende gedacht und manche, seine Thesen stützenden Argumente, selektiv ausgewählt. Im Falle eines wissenschaftlichen Anspruchs in Bezug auf die vorgelegten Ausführungen wäre eine Auseinandersetzung mit den Ergebnissen anderer Konstitutionsforscher bzw. deren Widerlegung zwingend notwendig gewesen. So widersprechen Uwe Werners Ausführungen in wesentlichen Aspekten selbst der im Rahmen der AAG erarbeiteten Chronologie[5], die er selbst mitunterzeichnet hat (allerdings ohne daran aktiv mitgearbeitet zu haben!). Wäre nicht mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zu erwarten, dass von dieser Chronologie abweichende Ansichten entsprechend begründet werden? Wobei dies sicher nicht nur von Uwe Werner zu erwarten wäre!

Rudolf Steiner im siebten Mitgliederbrief: «Was der eine behauptet, muss Bedeutung für den andern haben; was der eine erarbeitet, muss für den andern einen gewissen Wert haben.»

In diesem Sinne erscheint es notwendig zum Ausdruck zu bringen, dass mit dem Votum zu diesem Antrag die Mitgliederversammlung sich die Ansichten, Argumentationen und Begründungen Uwe Werners nicht zu eigen machen, sondern die Empfehlungen unabhängig davon ausspricht.

Thomas Heck, 14. April 2024, thomas.heck@posteo.ch

[1] Alle Zitate Uwe Werners ohne weiteren Einzelnachweis finden sich in seinem Thesenpapier https://konstitution.anthroposophie.online/uw.pdf sowie seinem Aufsatz «Ein geeigneter Binnenraum für die Pflege der Geisteswissenschaft. Das Freiheitsideal im Werden der anthroposophischen Gesellschaft» im Archivmagazin 10. Dez. 2020, S. 125 – 162.

[2] GA 260/1985, S. 122 und 157.

[3] Ausnahmslos alle diejenigen, die behaupten, es sei ein rechtsfähiger Verein an der Weihnachtstagung gegründet worden, sind den Nachweis dafür bis heute schuldig geblieben bzw. setzen sich über mehrere vorliegende juristische Aussagen und Einschätzungen hinweg. www.wtg-99.com/Rundbrief_69

[4] Artikel von Uwe Werner im Archivmagazin, auf den er sich explizit bezieht.

[5] Im Login-Bereich auf www.goetheanum.org oder https://konstitution.anthroposophie.online/

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