In „Anthroposophie weltweit“ 7-8/18 und auf der Internet-Seite der Albert Steffen-Stiftung war unter dem Titel „Rehabilitierung – ein Nachtrag und eine Vorschau“ eine Stellungnahme zur Rehabilitierungs-Initiative sowie zur Aufhebung der Beschlüsse von 1935 an der Generalversammlung 2018 von der Albert Steffen-Stiftung erschienen. Darauf wird im Folgenden eingegangen.
A statement on the rehabilitation initiative as well as on the repeal of the decisions of 1935 at the General Assembly 2018 of the Albert Steffen Foundation had appeared in “Anthroposophy worldwide” 7-8/18 under the title “Rehabilitation – postscript and preview”. This will be discussed below.
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Eine Zustimmung zu der an der Generalversammlung 2018 beantragten Aufhebung des Beschlusses, mit dem Ita Wegman und Elisabeth Vreede 1935 aus dem Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft ausgeschlossen und von ihrer Tätigkeit als Sektionsleiterinnen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft getrennt worden waren, konnte nur demjenigen möglich gewesen sein, der der Ansicht war, dass diese Absetzungen 1935 zu Unrecht erfolgten. Wer der gegenteiligen Ansicht war bzw. ist, musste selbstverständlich gegen die Aufhebung stimmen oder sich zumindest enthalten. Mehrheiten, auch überwältigende, sind keine Garantie dafür, dass die dadurch getroffenen Entscheidungen zu Recht oder zu Unrecht erfolgt sind, dies gilt für den Beschluss von 1935 ebenso wie für die Aufhebung dieses Beschlusses an der Generalversammlung von 2018.
Zur Erinnerung: 1935 wurden mit einer einzigen Abstimmung nicht nur Ita Wegman und Elisabeth Vreede aus dem Vorstand und von ihren weiteren Wirkensmöglichkeiten in ihren Sektionen (Teil I des damaligen Antrages), sondern auch sechs weitere, namentlich genannte Einzelpersönlichkeiten[1] (Teil II) sowie die holländische und die englische Landesgesellschaft aus der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft ausgeschlossen (Teil III). Die Teile II und III wurden bereits an der Generalversammlung 1948 einstimmig, also auch mit Zustimmung der anwesenden Vorstände Albert Steffen und Guenther Wachsmuth, aufgehoben. Der Bericht im Nachrichtenblatt lautete wie folgt:
„Die Generalversammlung von Ostern 1948 erklärt den Beschluss der Generalversammlung vom 14. April 1935 bezüglich der Zugehörigkeit zur Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft als aufgehoben und dass sie jeden, der sich der Gesellschaft wieder anschliesst, begrüsst.”[2]
Diese Formulierung liess nicht deutlich werden, dass der Beschluss von 1935 lediglich teilweise aufgehoben worden war. Diese Tatsache war bis 2017 nicht bekannt, denn auch Uwe Werner berichtete im Nachrichtenblatt 51-52/2002 von der Aufhebung aller Teile des Beschlusses. Insofern werden viele im Februar 2017 überrascht gewesen sein, als bekannt wurde, dass der den Ausschluss Ita Wegmans und Elisabeth Vreedes betreffende Teil des Beschlusses weiterhin Bestand hatte.
Im Jahr 1948 konnte durchaus anerkannt werden, dass die Ausschlüsse „als solche“ zumindest teilweise ein Fehler waren. Dies geschah durch die einstimmige Annahme des Antrages. Die Möglichkeit, eine unvoreingenommene und vorurteilslose Bewertung des Geschehens von 1935 vorzunehmen oder gar die Anerkennung, dass Unrecht geschehen sein könnte, war noch nicht gegeben.[3] Dass dies heute anders sei, von dieser Überzeugung gingen die Initiatoren der Rehabilitierung-Initiative aus, nachdem bereits seit Jahrzehnten von etlichen Autoren wesentliche Beiträge zu einer Aufarbeitung vorliegen[4].
Ein doch gegensätzliches Bild ergibt sich aus dem Artikel von Christine Engels, Präsidentin der Albert Steffen-Stiftung. Dort werden erhebliche Einwände und Vorbehalte gegenüber der Aufhebung des Beschlusses und dem Rehabilitierungsbemühen in sachlicher und moralischer Hinsicht erhoben. Auf einige Motive soll im Folgenden eingegangen werden.
Zu den Ausführungen im Einzelnen:
Im ersten Absatz wird behauptet, dass
„die Persönlichkeit Albert Steffens als damaligem Erstem Vorsitzenden (neben der von Guenther Wachsmuth) Zielpunkt der Kritik in Bezug auf die Ausschlüsse von 1935“
gewesen sei. Mit dem folgenden Zitat aus der Broschüre[5] soll diese Aussage gestützt werden:
„An dieser Stelle sei angemerkt, dass in keinster Weise eine absolute Verurteilung der Persönlichkeiten Albert Steffen und Guenther Wachsmuth intendiert ist oder erfolgen darf. Auch ihr Einsatz für die Anthroposophie ist hoch zu schätzen. […] Einen Fortschritt in Richtung einer Bewusstseinsseelenhaltung könnte es bedeuten, wenn wir in den Taten eines Menschen das Wirken der Gegenmächte erkennen können[6], ohne dadurch die Liebe zu ihm als Mensch zu verlieren oder sein wahres Streben zu verkennen.“
Allerdings bezieht sich dieses Zitat keineswegs ausschliesslich auf die Ausschlüsse 1935 sowie Albert Steffen und Guenther Wachsmuth und schon gar nicht auf deren Persönlichkeit, was aber erst aus dem Zusammenhang ersichtlich wird, dem das Zitat entnommen wurde. Hier der ganze Kontext, in dem die von der Albert Steffen-Stiftung zitierten Passagen unterstrichen dargestellt sind:
„Im Laufe der nächsten Jahre wurde auch Marie Steiner, die an den Ausschlüssen ihrer Vorstands-Kolleginnen beteiligt war, von der Mitwirkung im Vorstand und der Gestaltung der Gesellschaft ausgeschlossen. Damit war auch das weibliche Element des Urvorstandes vollständig beseitigt. Die Bedeutung eines Gleichgewichtes in männlich-weiblicher Wirksamkeit für die erneuerte Esoterik wurde von Rudolf Steiner jedoch schon in den frühen esoterischen Stunden besonders betont.
Vor dem Hintergrund der Abendvorträge, die Rudolf Steiner bei der Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft im Dezember 1923 hielt, und aus denen sein über Jahrtausende währendes Zusammenwirken mit Ita Wegman im Dienste Michaels sichtbar wird, erscheint der Ausschluss vor allem Ita Wegmans aus dem Vorstand von besonderer Tragik und Folgenschwere. [7]
Als Wilhelm Rath nach der Generalversammlung 1935 Elisabeth Vreede aufsuchte und sie von den Ausschlüssen erfuhr, sagte sie, was in Dornach geschehe, habe Auswirkungen auf das ganze Weltgeschehen. „Der Damm gegen den Nationalsozialismus sei nun gebrochen.“[8]
Vom einstigen Urvorstand und der durch ihn repräsentierten relativen Vielfalt geistiger Strömungen waren nur noch Albert Steffen und Guenther Wachsmuth geblieben, die in einer unvermeidbaren Einseitigkeit nun über Jahrzehnte bestimmend blieben für die weitere Entwicklungsrichtung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Diese versank langsam in den Zustand der Lähmung und Wirkungslosigkeit, für Jahrzehnte, auf den Rudolf Steiner als drohende Gefahr hingewiesen hatte, wenn der Impuls der Weihnachtstagung nicht aufgenommen würde. „Anthroposophie wird sicher nicht aus der Welt geschafft. Aber sie könnte für Jahrzehnte und länger, ich möchte sagen, in einen latenten Zustand zurücksinken. Es wäre aber Ungeheures verloren für die Entwicklung der Menschheit.“[9]
An dieser Stelle sei angemerkt, dass in keinster Weise eine absolute Verurteilung der Persönlichkeiten Albert Steffen und Guenther Wachsmuth intendiert ist oder erfolgen darf. Auch ihr Einsatz für die Anthroposophie ist hoch zu schätzen. Wir verdanken z.B. Guenther Wachsmuth, dass der Bau des zweiten Goetheanum überhaupt möglich wurde und Albert Steffen seine grossartigen Dichtungen, Dramen und heilenden Bilder. Es darf jedoch auch nicht darüber hinweggesehen werden, wie durch diese beiden Vorstände die Gesellschaftsentwicklung geprägt wurde. Einen Fortschritt in Richtung einer Bewusstseinsseelenhaltung könnte es bedeuten, wenn wir in den Taten eines Menschen das Wirken der Gegenmächte erkennen können[10], ohne dadurch die Liebe zu ihm als Mensch zu verlieren oder sein wahres Streben zu verkennen. Wir könnten den gesamten Werdegang der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im Lichte des permanenten Scheiterns und Versagens der Mitglieder sehen, uns eingeschlossen, weil wir es mit „starken gegnerischen Mächten, dämonischen Mächten“[11] zu tun haben, welche „gegen die anthroposophische Bewegung anstürmen“11 und „die sich ja doch der Menschen auf Erden bedienen“11. Jegliche „innere Opposition“[12], von der Rudolf Steiner so häufig sprach – „bis in meine allernächste Umgebung hinein“[13] – entstammte dem Einfluss der Gegenmächte.“
Deutlich wird einerseits, dass die Zitate nicht auf Albert Steffen und Guenther Wachsmuth „angewendet“ wurden, sondern die gesamte Mitgliedschaft gemeint war – uns selber eingeschlossen. Hätten wir diesen Hinweis lediglich auf Albert Steffen und Guenther Wachsmuth beziehen wollen, so hätten wir das auch deutlich formuliert, z.B. in dieser Art: „… wenn wir in den Taten dieser Menschen …“ bzw. „… dieser beiden Menschen …“ hätte es zumindest heißen müssen. So ist dieser vermutete Bezug auf Albert Steffen und Guenther Wachsmuth nicht gegeben, was auch deutlich aus dem Hauptzitat hervorgeht, auf das wir uns bezogen haben:
„… er [der Wanderer der Chymischen Hochzeit] soll in die Beweggründe des menschlichen Wollens und Handelns tiefere Blicke tun, als sie dem gewöhnlichen Bewußtsein zuteil werden. Der Darsteller der «Chymischen Hochzeit» will sagen, daß dieses gewöhnliche Bewußtsein nur die Außenseite des Wollens und Handelns kennenlernt, und daß auch die Menschen durch dieses Bewußtsein von ihrem eigenen Wollen und Handeln nur diese Außenseite gewahr werden. Die tiefer liegenden geistigen Impulse, die aus der übersinnlichen Welt heraus in dieses Wollen und Handeln sich ergießen, und die das menschliche soziale Zusammenleben gestalten, bleiben diesem Bewußtsein unbekannt. Der Mensch kann in dem Glauben leben, ein bestimmter Beweggrund führe ihn zu einer Handlung; in Wahrheit ist dieser Beweggrund nur die bewußte Maske für einen unbewußt bleibenden. Insofern die Menschen ihr soziales Zusammenleben nach dem gewöhnlichen Bewußtsein regeln, greifen in dieses Zusammenleben Kräfte ein, die nicht im Sinne der Entwickelung liegen, welche der Menschheit heilsam sind…“[14]
Es entsteht der Eindruck, dass u.a. durch das aus dem Zusammenhang herausgenommene Zitieren den Initiatoren der Rehabilitierungs-Initiative etwas unterstellt wird, was von diesen nicht intendiert war und auch nicht schlüssig aus den Original-Zitaten hervorgeht.
Es ist allerdings eine Tatsache, dass A. Steffen die Ausschlüsse von 1935 nicht nur befürwortet, sondern sein Verbleiben im Amt des ersten Vorsitzenden davon abhängig gemacht hatte, dass die Generalversammlung die Ausschlüsse beschliessen würde.[15] Wenn diese Ausschlüsse ein Unrecht darstellten, so war A. Steffen daran beteiligt, dass dies entstand.
Weiter wird in dem Beitrag von C. Engels ausgeführt:
„Justus Wittich betonte in seinem Artikel in <Anthroposophie weltweit> Nr. 1-2/2018, dass es mittlerweile erwiesen sei, dass Ita Wegman und Elisabeth Vreede «ohne Makel» gewesen seien, und schloss sich implizit der Ansicht an, dass die Ausschlüsse aufgrund einer objektiven Fehlleitung der Verantwortungsträger der Gesellschaft geschehen seien.“
Tatsächlich bringt Justus Wittich folgendes zum Ausdruck:
„Die Anthroposophische Gesellschaft in der Schweiz stellte später über mehrere Jahre Material zu jedem Mitglied des Gründungsvorstandes zusammen, verschiedene Biografien erschienen allmählich, und im Bewusstsein einer dritten Generation von Anthroposophen waren die ehemals abberufenen Ita Wegman und Elisabeth Vreede ganz selbstverständlich und ohne jeden Makel mit in den Gründungsvorgang und die Gesellschaftsentwicklung eingeschlossen.“
und an anderer Stelle:
„In der Anschauung der meisten Mitglieder sind die damals abberufenen Vorstandsmitglieder deshalb von einer gewissen Warte aus bewusstseinsmäßig heute im 21. Jahrhundert längst ohne Makel. Eine offizielle Rehabilitierung hat aber nie stattgefunden. […] In der von 1.820 Mitgliedern im provisorisch fertiggestellten Zweiten Goetheanum besuchten Generalversammlung vom 14. März stellte eine Gruppe von Mitgliedern im Einklang mit den restlichen Vorstandsmitgliedern den Antrag auf Abberufung von Ita Wegman und Elisabeth Vreede von ihren Vorstandsämtern (und dadurch auch von den Leitungen ihrer Sektionen).“
Die verkürzte Darstellung gibt nicht wieder, was Justus Wittich tatsächlich geschrieben hat. Woraus geschlossen wird, J. Wittich habe von einer „objektiven Fehlleistung der Verantwortungsträger“ geschrieben, ist unklar. Wenn damit die Formulierung „in Einklang mit den restlichen Vorstandsmitgliedern“ gemeint sein sollte, so kann an der Richtigkeit dieser Aussage kein Zweifel bestehen.
Inwieweit die Aufhebung der Beschlüsse an der Generalversammlung 2018 für die Albert Steffen-Stiftung zu früh kam, soll hier nicht beurteilt werden. Die Albert Steffen-Stiftung:
„Das Thema [die Vorgänge um 1935] ist so groß und vielschichtig, dass es viel Zeit braucht, um sich darin auszukennen.“
Das ist gewiss richtig und es ist ja schon vieles geleistet worden, so hat z.B. Emanuel Zeylmans van Emmichoven zwölf Jahre an seiner Dokumentation gearbeitet, die seit 25 Jahren vorliegt.
Weiter heisst es:
„Dazu kommt, dass uns – wir bitten um Verzeihung – die Art und Weise der Rehabilitierungsbemühungen unseriös erscheint. Rehabilitierung ohne Aufarbeitung mit dem Hinweis, das zu den Bemühungen berechtigende Material sei (fast ausschließlich) in Büchern zu finden, die enge Mitarbeiter Ita Wegmans verfasst haben, ist schon eher eine unangenehme Sache und wendet sich an das Gefühl, nicht an die Urteilsfähigkeit.“
Emanuel Zeylmans von Emmichoven, Lily Kolisko und Peter Selg beispielsweise sollen enge Mitarbeiter Ita Wegmans gewesen sein? Eine etwas „unangenehme Sache“ ist dieser Beitrag der Albert Steffen-Stiftung, denn in der Argumentation wird auf nichts verwiesen, auch nicht auf eine zugrunde liegende Literatur. Was hatte man erwartet? Dass wir alles noch einmal publizieren, was bereits publiziert ist? Unsere Broschüre enthält zahlreiche Fussnoten mit Quellenangaben und es sind die wichtigsten Veröffentlichungen im Literaturverzeichnis angegeben.4 Eine unabhängige Urteilsbildung für diejenigen, die sich noch kein Urteil gebildet hatten, war damit möglich, auch für Angehörige der Albert Steffen-Stiftung. Stattdessen werden Vermutungen und Behauptungen aufgestellt. Ist es nicht gerade dieser Duktus des Artikels der Stiftung, der sich „an das Gefühl, nicht an die Urteilsfähigkeit“ des Lesers wendet?
Weiter aus dem Wortlaut:
„… da jedes Steffen-Zitat, das ihn von Vorwürfen freisprechen würde, sicher mit einem Zitat, das das Gegenteil aufzeigen würde, beantwortet würde, haben wir uns entschlossen, uns in der anthroposophisch-öffentlichen Diskussion der Sache nicht zu äußern. Wir empfinden dies selbst als Makel, stehen aber lieber zur Lücke, als hinterher vielleicht hinter selbstproduzierten Stellungnahmen stehen zu müssen, die sich als weder fundiert noch haltbar erweisen könnten.“
Wird damit nicht die Absicht unterstellt, man wolle Albert Steffen etwas vorwerfen? Und sind denn alle die Zeylmans, Kirchner-Bockholts, Meyers, Selgs, Wittichs und Hecks Gegner Albert Steffens? Der bisherige Stand der Aufarbeitung besteht schliesslich bei weitem nicht aus Zitaten, sondern in der Sichtung und Auswertung von Dokumenten und Berichten. Ist man in der Albert Steffen-Stiftung wirklich der Ansicht, dass es – ausserhalb ihrer selber – keinen unvoreingenommenen Erkenntniswillen in dieser Angelegenheit gibt und stattdessen nur darauf gewartet wird, „entlastende Zitate“ sofort mit „belastenden Zitaten“ zu beantworten?
Weiter im Artikel:
„Die diesjährige Abstimmung war auf der Grundlage aufgebaut, «es sei Unrecht geschehen». Dabei wurde dieses Unrecht der damaligen <Gewinnerseite> zugeschoben, und die damals Ausgeschlossenen wurden als unschuldige Opfer dargestellt. Über die Gründe für die Ausschlüsse wurde nicht gesprochen und somit den fast 1700 Mitgliedern, die für die Ausschlüsse gestimmt hatten (die Gegen- und Enthaltungsstimmen beliefen sich zusammen auf 129), Fehlurteil oder Irregeleitet sein unterstellt.“
Waren die Ausschlüsse damals zu Recht oder zu Unrecht gefasst worden? Wäre dies nicht die relevante Frage? Stattdessen wird unterstellt, dieses Unrecht sei der damaligen „Gewinnerseite zugeschoben“ worden. Der Vorwurf, über die Gründe für die Ausschlüsse sei gar nicht gesprochen worden, entspricht nicht den Tatsachen. Unsere Broschüre4 ist, wie schon erwähnt, voll mit Hinweisen auf Gründe, die seit Jahrzehnten bekannt sind und auch Peter Selg hat mehrfach darüber geschrieben und gesprochen. Im Zweig am Goetheanum gab es auf unsere Anregung hin im März 2018 einen offenen Gesprächsabend. Der Hinweis auf das Abstimmungsergebnis von 1935 ist einseitig, denn unterlagen die vielen, die in den vergangenen Jahrzehnten an der Aufarbeitung beteiligt waren, alle nur Fehlleitungen und Irrtümern? Oder hatten alle nur das ausschliessliche Ziel, Albert Steffen zu verleumden und die Unschuldigen schuldig zu sprechen? So auch die Mehrheit an der diesjährigen Generalversammlung und die über 1.500 Unterstützer der Initiative? Im Gegensatz zu 1935 war 2018 mehrere Monate vor der Generalversammlung das Thema aktuell und jeder konnte sich, wie bereits erwähnt, ein eigenes Urteil bilden. 1935 war die Denkschrift[16], die auch nach eigener Auffassung der Autoren derselben sowohl parteiisch als auch eine Streitschrift[17] gewesen ist, gerade einmal 3 Wochen vor der Generalversammlung erschienen. Ansonsten konnten sich die Mitglieder aus einem tendenziösen und fehlerbehafteten Vorläufer der Denkschrift[18] von Hermann Poppelbaum informieren. Die „Nachrichten für die Mitglieder“ waren auch damals ungeeignet, um sich eine eigene Urteilsgrundlage zu verschaffen. Da ist die Situation heute eine ganz andere (die Situation der Mitglieder, nicht die der offiziellen Publikationsorgane!): Wer urteilsfähig sein will, kann es sein. Dass die Albert Steffen-Stiftung in den Jahrzehnten nur sehr wenig zu dieser neuen Situation und für die Aufarbeitung beigetragen hat, ist bedauerlich. Angesichts der Tatsache, dass denjenigen, die sich um Aufarbeitung bemüht haben, oftmals ein Zugang zum Steffen-Archiv nicht gewährt wurde, ist es schon erstaunlich, wenn jetzt nach Jahrzehnten deren Ergebnisse pauschal und ohne auf konkrete Punkte einzugehen in dieser Art in Frage gestellt werden.
Sofern allerdings in der Albert Steffen-Stiftung die Ansicht besteht, die Ausschlüsse 1935 seien zu Recht erfolgt, so wäre es gut, dies deutlich zum Ausdruck zu bringen anstatt denjenigen, die zu anderen Beurteilungen gekommen sind, unlauteres und gar unseriöses Vorgehen zu unterstellen. Noch besser wäre es freilich, wenn die Ansichten sachlich und inhaltlich begründet und die Urteilsgrundlagen dazu der Forschung und Aufarbeitung uneingeschränkt zugänglich gemacht würden
Weiter aus dem Beitrag der Albert Steffen-Stiftung:
„Es war sicher ein Versäumnis von unserer Seite, das, was hier nach über zwei Monaten recht unaktuell daherkommt und vor allem von unserer derzeitigen Inkompetenz in der bewussten Angelegenheit spricht, nicht bereits vorher veröffentlicht zu haben.“
Hier wird die eigene „Inkompetenz in der bewussten Angelegenheit“ eingestanden.
Wie aber ist es zu verstehen, wenn man dennoch glaubt, über andere, die sich in die Publikationen und Dokumente der zugänglichen Archive eingearbeitet haben und deren Arbeiten urteilen zu können? Ist man tatsächlich den angegebenen Quellen und Hinweisen nicht nachgegangen?
Weiter aus dem Artikel:
„Zeitweise befürchteten wir, das Ergebnis der Rehabilitierungsbemühungen könnte sein, dass als Nächstes Albert Steffen und Guenther Wachsmuth rehabilitiert werden müssten.“
Gibt es denn Beschlüsse der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, die Albert Steffen oder Guenther Wachsmuth in ihrem Wirken und in ihrem sozialen Zusammenhang beeinträchtigt haben und die man im Sinne eines Beitrages zu einer Rehabilitierung aufheben könnte? (Gewiss gibt es mindestens einen Generalversammlungs-Beschluss, der gegen Marie Steiner gerichtet war[19], aber das ist eine andere Angelegenheit.) Auch scheint man keinen angemessenen Begriff vom Wesen und Ziel einer Rehabilitierung zu haben, denn „indem der Akzent auf dem ‚öffentlichen Ansehen‘ liegt, nicht auf dem Sein der Betroffenen, wird unzweifelhaft deutlich, dass primär die Gesellschaft von einem Rehabilitierungsverfahren betroffen bzw. von ihm gemeint ist – die damalige und die heutige.“[20]
Fazit
Der Beitrag von Christine Engels bringt in der Sache keine Erkenntnis, lediglich die Situation der Albert-Steffen-Stiftung wird deutlich, einerseits die selbst eingestandene Inkompetenz in dieser Angelegenheit und andererseits, dass es wohl noch Jahre dauern wird, bis es zu Veröffentlichungen eventuell vorhandener Materialien zur Gesellschaftsgeschichte der fraglichen Zeit kommen wird. Dennoch wird über die Intentionen und das Vorgehen anderer in dieser Angelegenheit sachlich und moralisch geurteilt.
Dornach, 22. September 2018, Thomas Heck
[1] Es handelte sich um D. N. Dunlop, George Kaufmann, Dr. F. W. Zeylmans, P. J. de Haan, Jürgen von Grone und Dr. E. Kolisko.
[2] Laut Bericht im Nachrichtenblatt Nr. 16/1948
[3] In der Begründung des Antragstellers Emil Leinhas hiess es: „dass – welche Verfehlungen herüber und hinüber auch vorgekommen sein mögen – der Ausschluss als solcher ein Fehler war.“ Quelle: Einige Gesichtspunkte zum Verständnis der Vorgänge in der Anthroposophischen Gesellschaft nach Rudolf Steiners Tod. Emil Leinhas, Selbstverlag. 1963
[4] Siehe Literaturverzeichnis am Ende der Broschüre: http://wegman-vreede.com/wp1/wp-content/uploads/2017/11/Rehabilitierung_Wegman-Vreede_A5.pdf
[5] Initiative zur Rehabilitierung von Ita Wegman und Elisabeth Vreede, Verantwortlich: Thomas Heck und Eva Lohmann-Heck, Privatdruck 2017, www.wegman-vreede.com
[6] „Der Mensch kann in dem Glauben leben, ein bestimmter Beweggrund führe ihn zu einer Handlung; in Wahrheit ist dieser Beweggrund nur die bewusste Maske für einen unbewusst bleibenden….“ Rudolf Steiner, GA 35, S. 349f: „Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz“
[7] GA 233, „Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung“, sowie u.a.: Zeylmans: Wer war Ita Wegman, Bd. I, 1992.
[8] Heinz Eckhoff: Schicksal der Menschheit an der Schwelle. Stuttgart 1998, S. 96.
[9] GA 258, 1981, S. 171. Zum Beispiel fanden während des zweiten Weltkrieges vier Jahre lang keine Vorstandssitzungen statt, von 1943 bis 1949 wurden am Goetheanum keine Klassenstunden gehalten – während die Hochschularbeit anderenorts durchaus weiterging.
[10] „Der Mensch kann in dem Glauben leben, ein bestimmter Beweggrund führe ihn zu einer Handlung; in Wahrheit ist dieser Beweggrund nur die bewusste Maske für einen unbewusst bleibenden….“ Rudolf Steiner, GA 35, S. 349f: „Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz“
[11] GA 260a, 1987, S. 235.
[12] Mehrfach in GA 258, besonders häufig in GA 259 angesprochen u.a.
[13] Zeylmans: Wer war Ita Wegman, Bd. III, 2013, S. 435.
[14] GA 35, S. 349
[15] Nachrichtenblatt Nr. 19 vom 12. Mai 1935
[16] Bei der „Denkschrift über Angelegenheiten der Anthroposophischen Gesellschaft in den Jahren 1925 – 1935“ handelt es sich in Wirklichkeit um eine Kampfschrift mit einem Umfang von 154 Seiten, mit welcher der Ausschluss von Ita Wegman und Elisabeth Vreede aus dem Vorstand sowie der Ausschluss namhafter Mitglieder und der Landesverbände von Holland und England begründet wurden. Diese „Denkschrift“ wurde offiziell von der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft bis 1949 vertrieben und inhaltlich nie widerrufen.
[17] Siehe Seite 7 der Denkschrift.
[18] Die Angabe „Februar 1935“ in der Denkschrift entsprach nicht dem tatsächlichen Erscheinungsdatum.
[19] „Anfang 1947 stellte der Berner Zweig angesichts der verfahrenen Situation den Antrag an die bevorstehende Generalversammlung, Albert Steffen und Guenther Wachsmuth alleine die Leitung der Gesellschaft zu übertragen. Die Generalversammlung stimmte diesem Vorschlag im Frühjahr zu. Steffen nahm daraufhin seine Arbeit wieder auf und sah seine Position durch diesen Beschluss so weit gestärkt, dass er sich weigern konnte, mit Marie Steiner weiter im Vorstand zusammenzuarbeiten. Den Mitgliedern der von ihr geleiteten Sektion für redende und musizierende Künste stellte er 1948, wie Marie Steiner sich ausdrückte, einen »Freibrief« aus, zu seiner Sektion für schöne Wissenschaften »überzulaufen«.“ Quelle: https://www.anthroweb.info/geschichte/geschichte-ag/verhaertete-fronten-kuenftige-versoehnung.html
[20] Rudolf Steiner: Briefe und Meditationen für Ita Wegman. Zur Rehabilitierung Ita Wegmans. Band I. Hrsg. Peter Selg, Verlag des Ita Wegman Instituts 2018. Aus dem Vorwort von Peter Selg.