Was in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft noch vorgeht

Dokumentation zum Geschehen um den Antrag 6 der GV der AAG 2017 (PDF)

Vorbemerkung

Die Tatsache, dass die Beschlüsse, welche 1935 zum Ausschluss von Elisabeth Vreede und Ita Wegmann aus dem Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft führten, bis heute nicht aufgehoben wurden, wird für die meisten Mitglieder eine Überraschung gewesen sein. Allgemein bestand die  Ansicht, dass diese Beschlüsse bereits 1948 aufgehoben worden waren. So wurde es auch von Uwe Werner im Nachrichtblatt 51-52/2002 im Rahmen einer allgemeinen Mitteilung über Mitgliederausschlüsse dargestellt.

Insofern wäre mit einer Aufhebung des Beschlusses an der Generalversammlung 2017 lediglich die Situation hergestellt worden, von der allgemein angenommen wurde, dass sie längst bestünde.

Aufgrund von „massiven Widerständen“[1] in Funktionärskreisen, die erst unmittelbar vor bzw. in der Generalversammlung zu Tage traten, und wodurch eine angemessene inhaltliche Auseinandersetzung über die Gründe dieser „Widerstände“ nicht möglich war, haben die Antragsteller wegen  der überraschend entstandenen, auch für die Mitglieder unklaren,  Lage den Antrag während der Generalversammlung zurückgezogen.

Mit dieser Darstellung soll nun eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Begründungen, die den „massiven Widerständen“ zugrunde lagen, ermöglicht werden. Dazu werden, neben weiteren ergänzenden Hinweisen, die genannten Argumente dargestellt und ein  Versuch der Bewertung unternommen.

Zur Vorgeschichte

Der betreffende Antrag wurde am 24.02.2017, 6 Wochen vor der Generalversammlung 2017 in  Anthroposophie weltweit veröffentlicht und damit der Mitgliedschaft bekannt gegeben.  Am Mittwoch, den 05.04.2017, also 3 Tage vor der Generalversammlung,  teilte Justus Wittich den Antragstellern folgendes mit (Auszug aus dem E-Mail):

 „Bei Antrag 6 nehmen wir die – in diesem Falle von uns beauftragte – Recherche von Uwe Werner in die Versammlungsunterlagen auf (siehe Anhang – mit letzer mir vorliegender Fassung). Paul Mackay wird sich aufgrund dieser Darstellung[2] als Person für den Antrag aussprechen. Es gibt viel Zustimmung aus Holland. Im nächsten Jahr soll das 75. (nicht 70.) Todesjahr zum Anlass einer Veranstaltung über die beiden werden.“

Paul Mackay will sich also aufgrund der Archivrecherche für den Antrag aussprechen. Bis zu diesem Zeitpunkt war kein einziges kritisches Votum, keine ablehnende Haltung oder Bedenken gegen den Antrag bekannt geworden. Im Gegenteil gab es sehr viele ausschliesslich positive und zustimmende Voten, aus Holland und auch aus der Leitung der Gesellschaft, wie aus dem zitierten E-Mail von Justus Wittich deutlich wird.

Erst am Vorabend der Generalversammlung, gegen 19 Uhr, schrieb Justus Wittich:

„Lieber Herr Heck, wir hatten gestern bei den Generalsekretären ein fruchtbares, aber in den Anschauungen auch gegensätzliches Gespräch zu den Vorgängen von 1935 – und es scheint sich daraus durch Gerald Häfner noch ein Gegenantrag bzw. ein Vorschlag, Ihren Antrag zu verändern, abzuzeichnen. Sobald er mir vorliegt, setze ich mich mit Ihnen in Verbindung.

Es geht im Kern darum, dass man als Generalversammlung eine heutige Auffassung zu dem damaligen Geschehen in Ihrem Sinne durch einen Antrag kundtut, nicht aber einen historischen Beschluss aufheben kann, weil dieser Geschichte ist. Es dürfte – soweit ich die Intention verstanden habe – nicht die Illusion erweckt werden, durch eine solche Aufhebung würden wir juristisch den damaligen Vorgang ungeschehen machen. Gerald Häfner wollte dafür einen angemessenen Formulierungsvorschlag finden. Von der Intention her besteht sonst Einigkeit, obwohl zu dieser Frage sicherlich eine ganze Reihe von Mitgliedern das Wort ergreifen will.  Mit herzlichem Gruß, Justus Wittich“

Gerald Häfner beschreibt den Hergang des Generalsekretärs-Treffen wie folgt:[3]

„Als dort Antrag 6 in größerer Runde verhandelt wurde, wurde sehr schnell erkennbar, dass es dagegen massive Widerstände gab. Sie richteten sich nicht so sehr gegen das inhaltliche Anliegen, sondern vor allem gegen die juristische Form. Neben den in den Protokollen vermerkten Gründen[4] [weil zu diesem Zeitpunkt 1948 EV und IW bereits verstorben waren][5], die schon 1948 dazu führten, dass Emil Leinhas die Aufhebung der Gesellschaftsausschlüsse, nicht aber in gleicher Weise die der Vorstands-Amtsenthebungen, beantragte, wurden weitere vorgebracht. Insbesondere: Der Vorschlag sei eine rechtliche Unmöglichkeit. Was beim Ausschluss aus der Gesellschaft (in die man aus eigener freier Entscheidung ohne rechtliche Verpflichtung und zeitliche oder sonstige Begrenzung eintritt) für möglich und sogar geboten gehalten wurde, wurde hier (bei einem Amt, in das man von anderen berufen wird und in dem man die Gesellschaft u.a. auch, mit erheblichen Folgen, rechtlich repräsentiert) für gänzlich unmöglich gehalten. Ein Ausschluss kann rückgängig gemacht werden, eine Amtsenthebung aus einem nachfolgend für begrenzte Zeit amtierenden Organ, nicht. In dieser Form zwinge der Antrag Menschen, die sich für eine umfassende Rehabilitierung I. Wegmanns und E. Vreedes aussprechen, dagegen zu stimmen.

Man muss diese Argumente nicht teilen. Aber zur Kenntnis nehmen muss man sie. Die deutlichste Stimme kam, wie auch Th. Heck schreibt, aus den Niederlanden, von dem dortigen Generalsekretär (und Professor für Rechtswissenschaften) Jaap Simons. Doch er war bei weitem nicht der einzige. Es gab weitere, ähnlich klar ablehnende Äußerungen. So wurde zu diesem späten Zeitpunkt erst deutlich, dass anstelle einer klaren Entscheidung zugunsten von E.Vreede und I. Wegmann auf der Versammlung heftiger Streit zu erwarten wäre.

Trotz mehrerer Gespräche, die ich im Vorfeld der GV noch bis Freitagabend mit prononcierten Gegnern führte, wurde deutlich: der angekündigte erhebliche Widerstand lässt sich nicht ausräumen. Eine erneute Spaltung in zwei Lager anhand der Fragen von 1935 mit einer siegreichen und einer unterlegenen Gruppe hätte uns aber gerade bei der Heilung der Gesellschaftswunden nicht weitergebracht. Es wäre der denkbar schlechteste Ausgang gewesen. Daher versuchte ich noch in der Nacht einen Änderungsantrag zu formulieren, den ich der Versammlungsleitung, den Antragstellern sowie den unterschiedlichen Protagonisten (Befürwortern wie Gegnern) mit der Frage  zustellte, ob sie darin eine Brücke sehen könnten. Ziel dieses Antrages war, eine Form des Beschlusses zu finden, die keine neuerlichen Gräben aufriss und der Gesellschaft gleichzeitig ermöglichte, so weit als nur irgend möglich in der Richtung des Antrages voranzuschreiten. Gleichzeitig sollte der Antrag deutlich machen, dass die Befassung mit dem Thema noch nicht zu Ende sei, sondern weiter gehen werde.“

Zusammengefasst lag also folgendes vor:

  1. Auffällig ist die benutzte Terminologie, so ist von „Widerstand“, „Streit“, „Spaltungen“ und „Gegnern“ [damit sind die Funktionäre gemeint] die Rede.
  2. Der Widerstand gegen den Antrag ging ausschliesslich von einem Teil der Funktionäre aus. Namentlich bekannt ist nur Jaap Sijmons. Gerald Häfner spricht davon, dass dieser „bei weitem nicht der Einzige“ gewesen sei. Die anderen haben sich aber nicht zu erkennen gegeben.
  3. Es gelingt Gerald Häfner, der, wie dargestellt, nach eigenen Angaben zu den „Befürwortern“ gehörte, bis zum Vorabend der Generalversammlung nicht, diesen Widerstand auszuräumen, sodass dieser in die – völlig unvorbereitete – Generalversammlung getragen worden wäre und dort Streit entfacht hätte. Auf die Idee, im Vorfeld eine Klärung oder eine Verständigung zu ermöglichen, ist niemand gekommen?
  4. Um einen Streit zu vermeiden formuliert Gerald Häfner in der Nacht den Änderungsantrag.

Exkurs zum Thema Streit

Sofern ein gegenseitiger Verständigungswille vorhanden ist, entsteht Streit in der Regel erst dann, wenn eine sachliche Auseinandersetzung nicht zu einer Einigung geführt hat und die unterschiedlichen Willensrichtungen weiterhin bestehen. Ein sachlicher Verständigungswille in der betreffenden Funktionärsversammlung ist aus der Darstellung von Gerald Häfner nicht erkennbar, stattdessen ist sofort von „massiven Widerständen“ die Rede und das „heftiger Streit“ zu erwarten wäre.

Es hätte niemals Streit entstehen können, wenn klare Gründe – juristisch oder auch anderer Art – rechtzeitig genannt worden wären und eine Auseinandersetzung rein sachlicher Art hätte stattfinden können. Wäre in unserer auf Erkenntnis ausgerichteten Gesellschaft nicht ein solches Vorgehen zu erwarten gewesen? Insbesondere, da es sich bei den Bedenkenträgern ausschliesslich um Teilnehmer des Generalsekretärs-Treffens handelte, also um Repräsentanten der Gesellschaft mit einer gewissen Vorbildfunktion?

Rudolf Steiner zu Erkenntnis und Streit:

„Gewiß, es wird über das Gebiet des Erkennens in der mannigfaltigsten Weise diskutiert, aber man muß doch sagen, daß, wenn sich die Menschen nur verständigen über die Begriffe und Ideen, die sie sich auf dem Gebiet der Erkenntnis formulieren, der Streit in Bezug auf Erkenntnisfragen immer mehr und mehr aufhören wird. Es ist schon öfter von mir betont worden, daß wir über die Dinge der Mathematik nicht mehr streiten, weil wir sie ganz ins Bewußtsein heraufgehoben haben, und daß wir bei denjenigen Dingen, über die wir uns streiten, diese noch nicht ins Bewußtsein heraufgehoben haben, sondern noch unsere unterbewußten Triebe, Instinkte und Leidenschaften hereinspielen lassen.“[6]

Um den – nach Auffassung von Gerald Häfner –  zu erwartenden, heftigen Streit zu vermeiden, formuliert er in der Nacht den Änderungsantrag mit der Absicht, damit einen Kompromiss zu ermöglichen, wobei sowohl die Antragsteller als auch die Mitglieder bis unmittelbar vor bzw. an der Generalversammlung keine Ahnung davon hatten, dass ein Kompromiss überhaupt notwendig sein könnte.

Zu den vorgebrachten Argumenten gegen die Aufhebung der Beschlüsse

Gerald Häfner berichtet vom Treffen der Generalsekretäre:

„Der Vorschlag sei eine rechtliche Unmöglichkeit.“ und würde „… für gänzlich unmöglich gehalten.“ und weiter:

„So kommt z.B. gerade aus den Niederlanden trotz völliger Zustimmung zu der Zielrichtung des Anliegens höchst massive Ablehnung gegenüber dem Vorschlag einer rechtlichen Aufhebung der vor 82 Jahren gefassten Entscheidung. Ein solches Vorgehen wird als juristische Unmöglichkeit und daher  geradezu als eine Lüge empfunden. (Email vom 08.04.2017 0:36 Uhr)“

Wenn dem so wäre, hätte dies objektiv feststellbar und begründbar sein müssen. In diesem Falle wäre der Antrag ohne jeden Streit sofort obsolet gewesen. Dieser Nachweis wurde jedoch nicht erbracht und ist auch nicht erbringbar. Es gibt von mehreren Juristen die Auskunft, dass Beschlüsse von Generalversammlungen selbstverständlich zu einem späteren Zeitpunkt aufgehoben werden können.[7] Gerald Häfner vertritt die Argumente der unbekannten Bedenkenträger, er selber hatte offensichtlich keine Bedenken gegenüber der Aufhebung des Beschlusses[8]. Hinzu stellt sich die Frage, warum diese angebliche Unmöglichkeit erst 2 Tage vor der Generalversammlung bei dem Treffen der Generalsekretäre zu Tage tritt?

Die Zielrichtung des Antrags war die Aufhebung der Beschlüsse. Wie ist es möglich, mit der Zielrichtung übereinzustimmen und gleichzeitig die Aufhebung abzulehnen? Und welches Rechtsempfinden muss man haben, wenn man die Aufhebung der Beschlüsse als eine Lüge empfindet? Was bedeutet es, dies als „Lüge zu empfinden“? Entweder ist es eine Lüge, oder es ist keine.

Gerald Häfner weiter:

 „In dieser Form zwinge[9] der Antrag Menschen, die sich für eine umfassende Rehabilitierung I. Wegmanns und E. Vreedes aussprechen, dagegen zu stimmen.“

Diese Aussage ist völlig unhaltbar, denn das Gegenteil ist wahr: Die Verleumdungen und Lügen, mit denen 1935 die Mitgliedschaft zur Annahme des Ausschluss-Antrags gebracht wurde, waren mit grösstem Aufwand verbreitet worden. Man denke nur an die „Denkschrift[10]“, die in Wirklichkeit eine Kampfschrift in Buchform war mit einem Umfang von 154 Seiten, die von der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (!) verbreitet wurde und somit offizielle Gesellschafts-Ansicht war. Durch die Beschlüsse, die auf diesen Ansichten gründen, sind diese bekräftigt worden und die betroffenen Persönlichkeiten sind dadurch in ihrer Ehre, Würde und moralischen Integrität, in ihrem Einstehen und Einsatz für Rudolf Steiner und für die Anthroposophie in erheblichsten Masse in Frage gestellt, diffamiert und verletzt worden. Diese Beschlüsse aufrecht erhalten zu wollen bei Anerkenntnis des geschehenen Unrechts wäre ein Widerspruch in sich. Wer sich auch nur ansatzweise mit der Rehabilitierungspraxis, besonders in deutschen Zusammenhängen mit dem 3. Reich und der DDR – aber auch kürzlich mit der Rehabilitierung verurteilter homosexueller Männer in der Zeit bis 1964, beschäftig, wird finden, dass die Aufhebung der ergangenen Urteile immer Bestandteil einer Rehabilitierung sind, auch dann, wenn die Betroffenen inzwischen verstorben sind.

Weiter wurde von Gerald Häfner auch Bezug genommen auf den „Rückzug“ der „Denkschrift“ im Jahr 1949:

„Er [der Beschluss von 1935] ist schon durch den nachträglichen Rückzug der zu seiner Begründung herangezogenen „Denkschrift 1925-1935“ – fragwürdig geworden. Die Rücknahme der zugrunde gelegten Denkschrift (durch Erklärung sämtlicher Autoren im Jahr 1949) entzieht ihm nachträglich vollends seine rechtliche wie moralische Grundlage.

Um eine sachgemässe Beurteilung dieses „Rückzuges der Denkschrift“ zu ermöglichen, sei hier die vollständige Mitteilung von 1949[11] wiedergegeben:

,,Durch eine Rundfrage bei allen überlebenden Unterzeichnern und Mitherausgebern der im Jahre 1935 erschienenen ‘Denkschrift 1925-1935’, die in englischer Übersetzung als ‘Memorandum 1925-1935’ erschien, habe ich festgestellt, dass alle damit einverstanden sind, dass diese Denkschrift aus dem Verkehr zurückgezogen und nicht mehr als Unterlage zur Urteilsbildung in den gegenwärtigen Gesellschaftsdiskussionen verwendet wird. Zwei der Unterzeichner hatten schon zuvor ihre Unterschrift unter dem Dokument gelöscht, bzw. erklärt, dass sie bei einem etwaigen Wiederabdruck wegbleiben solle. Die Stellungnahme der andern Unterzeichner ist individuell verschieden; aber alle sind einig in der Zustimmung zur Zurückziehung der Denkschrift aus dem Verkehr.”  Dornach, den 16. April 1949. Dr. Hermann Poppelbaum

Tatsächlich sollte die Denkschrift nicht mehr „zur Urteilsbildung in den gegenwärtigen Gesellschaftsdiskussionen“ herangezogen werden: Damit war der Streit um die Rechte an dem Nachlass Rudolf Steiners gemeint, in dem die Denkschrift ein wichtiges Beweisstück war.  Darin war  eine andere Haltung Albert Steffens dokumentiert, als er sie in dem 1949 aktuellen Streit eingenommen hatte[12]. Die Denkschrift spielte daher eine wesentliche Rolle bei dem Prozess um den Nachlass Rudolf Steiners. Von einer Rücknahme des Inhaltes der Denkschrift oder einer Anerkennung des geschehenen Unrechts konnte keine Rede sein seitens der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, bis heute nicht.

Zudem haben nach Darstellung von Emanuel Zeylmans van Emmichoven, „Wer war Ita Wegman“, Band 3, Seite 160, Günther Schubert (der Hauptverantwortliche für die Denkschrift) und Ehrenfried Pfeiffer auch nach 1950 an dem Inhalt der Darstellungen der Denkschrift festgehalten. [13] [14]

Kann man wirklich mit Recht behaupten, mit dem „Rückzug der Denkschrift“ sei den Beschlüssen von 1935 die „moralische und rechtliche Grundlage“ entzogen worden, wie Gerald Häfner vermutet? Uwe Werner meint in der oben erwähnten Bewertung der Archiv-Recherche sogar, dass die Erklärung:

„wie eine Versöhnungsgeste der Unterzeichner gegenüber Ita Wegman und Elisabeth Vreede gewertet werden kann, ohne dass dies explizit zum Ausdruck gebracht wurde.“

Diese Interpretationen haben offensichtlich nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Nehmen wir zur Kenntnis, was Hermann Poppelbaum, Verfasser einer Vorgängerversion der Denkschrift und Mitherausgeber derselben und im Jahr 1965 als 1. Vorsitzender des Vorstandes dazu sagte:

„Der andere [Punkt] ist der der sogenannten Rehabilitierung. Wir sind der Ansicht, dass es sich bei den Vorstandspersönlichkeiten, die wir alle verehren, beginnend mit Dr. Steiner selbst und bis zu Guenther Wachsmuth, dass es sich da um Persönlichkeiten von solchem Format handelte, dass wir mit unseren Rechtfertigungs­bedürfnissen doch ein wenig zu kurz kommen, ja dass eigentlich die Gesellschaft selbst gar nicht aufgerufen ist, hier zu viel zu sprechen von richtig und falsch. Es soll niemand sein Urteil revidieren müssen. Es soll aber jeder daran denken, dass diese Persönlichkeiten doch aller Rehabilitierung entrückt sind und dass es möglich ist, mit ihnen bei richtigem Handeln hier von der Erde aus in diejenige zusammenhaltende Verbindung zu kommen, die wir alle suchen“[15].

Niemand soll sein Urteil revidieren müssen? Wenn das Urteil wahr ist, gibt es nichts zu revidieren, wenn es als unwahr erkannt wird, muss es revidiert werden.

Ganz entgegen der Erklärung von Hermann Poppelbaum wurde die Denkschrift im Auftrag des Vorstandes sehr wohl auch weiterhin zur Urteilsbildung herangezogen:  In einem vom Vorstand in Auftrag gegebenem Rechtsgutachten[16] wird aus der Denkschrift mehrfach zitiert.

Es wurde eben nichts revidiert, bis heute nicht. Damit dürfte deutlich sein, dass die Bewertungen Gerald Häfners und Uwe Werners unverzichtbarere Grundlagen entbehren.

Aus dem Änderungsantrag Gerald Häfners:

„Wir können die 1935 beschlossene Abberufung von E. Vreede und I. Wegman 82 Jahre später nicht rückgängig machen. Ein derartiger Beschluss wäre illusionär“[17]

Es gehört zur Rehabilitierungspraxis, dass z.B. auch Todesurteile aufgehoben werden, die bereits vollstreckt wurden. Damit wird die Hinrichtung selbstverständlich nicht rückgängig gemacht,  sehr wohl aber kann das Urteil aufgehoben werden und damit die Würde und die moralische Integrität des zu Unrecht verurteilten wiederhergestellt werden. In unserem Fall kann die Abberufung aus dem Vorstand nicht rückgängig gemacht werden, das zu glauben wäre selbstverständlich illusionär. Sehr wohl kann aber der Beschluss, der zur Abberufung geführt hatte, aufgehoben werden. Damit würde zum Ausdruck gebracht, dass die Abberufung zu Unrecht erfolgte, was auch den Tatsachen entspricht.

Weiter in dem Änderungsantrag :

„Wir erachten den Beschluss aus heutiger Sicht für unhaltbar.“

Damit werden die damaligen Handlungen relativiert, denn auch aus  damaliger Sicht war der Beschluss unhaltbar.

Die Argumente Jaap Sijmons

Aus dem Protokoll der Generalversammlung 2017[18]:

 „ … Selbstverständlich könne die Generalversammlung sich zum Beschluss vom 14. April 1935 äußern. Genauso selbstverständlich sei es jedoch auch, dass durch die vorgeschlagene Aufhebung des Beschlusses von 1935 Ita Wegman und Elisabeth Vreede nicht mehr ihre Aufgaben als Vorstand aufnehmen könnten. Auf rechtlicher Ebene würden sich durch die vorgeschlagene Aufhebung Folgefragen ergeben, wie zum Beispiel diejenige, ob alle Beschlüsse des Vorstandes nach dem 14. April 1935 nachträglich als ungültig anzusehen wären, da sie ohne die Mitwirkung von Ita Wegman und Elisabeth Vreede zustande gekommen seien. Oder auch die Frage, ob von den Erben Schadensersatz gefordert werden könne. Jaap Sijmons vertritt die Haltung, dass die Aufhebung des Beschlusses vom 14. April 1935 keinen Sinn mache, man jedoch beschreiben könne, wie wir uns heute zu diesem Beschluss stellen würden.“

Jaap Sijmons hält, anders als von Gerald Häfner dargestellt, die Aufhebung der Beschlüsse sehr wohl für möglich, meint aber – so auch in einem Pausengespräch mit Antragstellern – man solle das nicht tun, weil Rechtsfolgen[19] eintreten könnten.

Weiter aus einem Bericht von Jaap Sijmons über die Generalversammlung (in Motief[20] 6/2017) :

“Ich selbst habe während der Versammlung gesprochen und herzlich begrüßt, dass für die beiden Persönlichkeiten Beachtung da ist, und habe den Willen begrüßt, der bei den Mitgliedern für sie lebt, und den Willen dafür, dass die Gesellschaft sich distanziert von der Entscheidung von 1935 und dass der Willen da ist, noch zusätzlich einen positiven Schritt zu tun.

Des Weiteren habe ich folgendermaßen differenziert:

  1. a) den juristisch-realistischen Effekt dieser Entscheidung, b) die rechtlichen Konsequenzen mit rückwirkende Kraft und c) das sich Distanzieren von dem Ausschluss, und die Rehabilitierung der Arbeit der beiden Persönlichkeiten.

Entgegen der Meinung der Antragssteller, meine ich, dass die rechtliche Wirkung des Ausschlusses mit dem Tod von Ita Wegman und Elisabeth Vreede im Jahr 1943, rechtlich realiter nicht rückgängig gemacht werden kann – und beide dennoch mit rückwirkender Kraft wieder ins Geschäftsführer-Amt gehoben werden können. Der Beschluss [von 1935] arbeitet in diesem Sinne nicht weiter (a). Wohl können Rechtsfolgen entstehen, wenn man rückwirkend einen zu Unrecht gefassten Beschluss aufhebt (b), zum Beispiel wenn hinterher Gehalt ausgezahlt wird, oder wenn die Gültigkeit der Vorstandsbeschlüsse zwischen 1935 und 1943 hinterfragt wird.

Über diese Punkte war nicht nachgedacht und diese waren mit dem Antrag anscheinend auch nicht beabsichtigt worden.

Die Versammlung kann sich jetzt [an der GV] von dem Beschluss von 1935 distanzieren – sofern man nicht der Meinung sei, dass dies  schon längst geschehen sei – und positive Schritte machen für die  Rehabilitierung, soweit das noch relevant ist (c). Letzteres war  mehr oder weniger der Inhalt einer Alternativ-Idee von Gerald Häfner, welche als „Anliegen“ formuliert wurde. In diesem Sinne lautete auch die Ansprache von Peter Selg in der GV. Schließlich sprach sich die Versammlung fast ohne Gegenstimmen für das „Anliegen“ aus und gegen eine Abstimmung des Antrages. Daraufhin zogen die Antragsteller ihren Antrag zurück. Soviel zur allgemeinen Mitgliederversammlung.”

Jaap Sijmons differenziert hier nicht zwischen der „Aufhebung des Beschlusses“ von einem „rückwirkend wieder ins Vorstands-Amt heben“. Um letzteres ging es in dem Antrag nicht, das wurde bereits erläutert. Die Ansprache Peter Selgs lautete keineswegs in diesem Sinne[21] und eine Abstimmung über das Anliegen fand gar nicht statt[22].

Grundsätzlich hält Jaap Sijmons die Aufhebung der Beschlüsse durchaus für möglich und weist zu Recht auf mögliche Rechtsfolgen hin. Als solche nennt er 1. mögliche Gehaltsforderungen und 2.  die Möglichkeit, dass Vorstandsbeschlüsse in dem Zeitraum 1935 – 1943 aufgrund der aufgehobenen Beschlüsse ungültig werden könnten.

Zu 1:   Zu unterscheiden sind die arbeitsrechtlichen von den vereinsrechtlichen Aspekten, die nur dann in einem Zusammenhang stehen, wenn dieser durch entsprechende Vereinbarungen zwischen dem Vorstand und der Gesellschaft hergestellt wurden. Es ist kaum anzunehmen, dass derartige Regelungen unter den damaligen Verhältnissen entstanden sein könnten. Zudem ist überhaupt fraglich, ob Ita Wegman und Elisabeth Vreede für ihre Vorstandstätigkeit ein Gehalt bezogen haben. Sehr viel wahrscheinlicher ist es, dass umgekehrt beide mit erheblichen Mitteln das Goetheanum unterstützt haben. Selbst wenn durch eine Aufhebung der Beschlüsse irgendwelche Forderungen gegenüber der Gesellschaft entstehen würden, so wären diese eben zu akzeptieren. Alles andere könnte bedeuten, dass neues Unrecht entsteht.  Im Übrigen dürfte dieses Argument vollkommen gegenstandslos sein, da inzwischen alle möglichen Ansprüche seit langem verjährt sind.

Zu 2:   Wenn man die Geschichte der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft etwas kennt, kann man wissen, dass Elisabeth Vreede und Ita Wegman lange vor 1935 an den Beschlussfassungen des Vorstandes faktisch ausgeschlossen waren. Und bereits 1934 wurde durch  die Generalversammlung beschlossen, dass die Leitung der Gesellschaft ausschliesslich in den Händen von Albert Steffen, Guenther Wachsmuth und Marie Steiner liegen sollte. Die Annahme, es könnten Vorstandsbeschlüsse zwischen 1935 und 1942 durch die Aufhebung des Beschlusses zum Ausschluss aus dem Vorstand ungültig werden, ist rein theoretisch und hat mit der Wirklichkeit in diesem Fall nichts zu tun.

Die dargestellten Aspekte müssten Jaap Sijmons als Generalsekretär und insbesondere in seiner Kompetenz als Professor für Jura doch eigentlich klar gewesen sein, stattdessen hat er bei den Mitgliedern an der Generalversammlung und auch danach mit gegenstandslosen Argumenten für Verwirrung gesorgt.

Dass im Gegenteil die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft eine Schuld gegenüber den Ausgeschlossenen haben könnte, hatte Jaap Sijmons nicht bedacht. Folgender Antrag war an der Generalversammlung 1935 von Ernst Suhrkamp gestellt worden:

“Sollte doch, was eine vollkommene Loslösung von Rudolf Steiner bedeuten würde, ein Ausschluß zustande kommen, so ist als selbstverständlich anzunehmen, daß den Ausgeschlossenen und allen, die hinter ihnen stehen, alle Beiträge zum Bau des Goetheanums zurückerstattet werden. Es ist eine seltsame Sache, daß ohne die z.T. ungemein hohen Beihilfen von Persönlichkeiten, die jetzt ausgeschlossen werden sollen, das Goetheanum überhaupt nicht hätte erbaut werden können.”

Zumindest damals hatte dieses Mitglied das im Bewusstsein.

Distanzieren oder rehabilitieren?

Man könnte meinen, dass es ausreichen würde, sich von den damals gefassten Beschlüssen zu distanzieren. Die Beschlüsse als aus heutiger Sicht unhaltbar zu betrachten, kommt dem in etwa gleich. Die Geste ist in beiden Fällen dieselbe: Man macht deutlich, dass man mit den damaligen Beschlüssen nichts zu tun hat, man distanziert sich eben, nimmt Abstand davon. Das mag als Einzelperson denkbar sein, für die Gesellschaft ist das unmöglich. Denn diese war es, die damals gehandelt hat. Als Gesellschaft sich davon distanzieren zu wollen würde bedeuten, dass die Gesellschaft sich von sich selbst distanziert.

Wenn eine Einzelperson Unrecht begangen hat, kann sie sich auch nicht davon distanzieren. Ein heilsamer Prozess kann nur in einer Anerkennung und in einer Aufarbeitung bestehen. Sich davon distanzieren zu wollen wäre illusionär, käme wohl einer Lüge gleich. Entsprechendes gilt auch für die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft.

Das Gesellschaftsorgan „Generalversammlung“ hat damals den Beschluss gefasst. Dasselbe Organ, auch wenn es heute von anderen Mitgliedern repräsentiert wird, muss auch den Beschluss aufheben.

Eine Rehabilitierung würde bedeuten, dass das damals geschehene Unrecht anerkannt wird. Weiterhin wäre anzuerkennen, dass es sich bei den Begründungen der damaligen Beschlüsse um Missverständnisse, Verleumdungen und Unwahrheiten gehandelt hatte, mit denen die betroffenen Personen in ihrer Ehre und ihrer moralischen Integrität sowie in ihrem anthroposophischen  Wirken zu Unrecht derartig massiv und umfänglich verurteilt wurden, dass ein Verbleiben im Vorstand der Gesellschaft als unmöglich angesehen wurde. Davon kann sich die Gesellschaft nicht distanzieren ohne sich selbst zu verleugnen.

Insofern muss eine Rehabilitierung diese Anerkennung und die Aufhebung der Beschlüsse beinhalten und das begangene Unrecht muss benannt werden. Zudem sind selbstverständlich auch die Leistungen von Ita Wegman und Elisabeth Vreede zu würdigen, vor allem das unerschütterliche Einstehen und Wirken für die Anthroposophie, für Rudolf Steiner, für den Weihnachtstagungsimpuls und für den Hochschulimpuls. Und es ist anzuerkennen, dass die damaligen Beschlüsse und Ausschlüsse genau diesen Idealen in eminentester Weise widersprochen haben.

Thomas Heck, Dornach, 24.10.2017

[1] Siehe weiter unten im Text.

[2] Gemeint ist die erwähnte Archiv-Recherche von Uwe Werner, die im blauen Heft zur Generalversammlung 2017 veröffentlicht wurde.. Alle Hervorhebungen in den Zitaten vom Verfasser.

[3] Der Text stammt aus einer Reaktion von Gerald Häfner zu  einer unveröffentlichten Dokumentation mit dem Verfasser.

[4] Das betreffende Zitat aus dem Protokollauszug lautet: „Es soll über die Toten nicht beschlossen oder diskutiert werden … und es nicht üblich ist, einen Streit über den Tod hinweg zu tragen …“. Aus der Formulierung geht, wenn man sich die Situation von 1948 vergegenwärtigt, deutlich hervor, dass es Emil Leinhas wohl vor allem darum ging, dass über die Ausschlüsse von 1935 kein neuer Streit entsteht. Denn es wäre damals Albert Steffen in keinem Fall zuzumuten gewesen, direkt oder indirekt durch die Aufhebung dieser Beschlüsse ein Eingeständnis abzuverlangen, dass 1935 Unrecht geschehen sei. So konnte damals den noch nicht Verstorbenen der Weg zurück in die Gesellschaft ermöglicht werden. Eine Rehabilitierung hätte ein Eigeständnis erfordert, dass 1935 Unrecht geschehen war und hätte selbstverständlich auch die Verstorbenen berücksichtigen müssen. Das aber war damals undenkbar.

[5] Kommentare in eckigen Klammern stammen vom Verfasser.

[6] GA 131, Von Jesus zu Christus, 5.10.1911, S. 46f

[7] Auch aus den Äusserungen Jaap Sijmons kann eindeutig geschlossen werden, dass er die Aufhebung der Beschlüsse für möglich hält. Er sprach davon, dass man die beiden Persönlichkeiten nicht posthum ins Vorstandsamt versetzen könne. Das hatte selbstverständlich niemand gefordert.

[8] Aus einer unveröffentlichten Korrespondenz mit Gerald Häfner: „Dass es besser gewesen wäre, wenn der Änderungsantrag schon eine Woche früher vorgelegen hätte, ist richtig und wird von mir uneingeschränkt geteilt. Doch gab es zu diesem Zeitpunkt gar keinen Grund für einen solchen Antrag. Die Notwendigkeit zeigte sich erst in den Tagen unmittelbar vor der GV.“ Das heisst, die angebliche Unmöglichkeit, den Beschluss aufzuheben, war Gerald Häfner eine Woche vor der Generalversammlung noch nicht bewusst.

[9] Hervorhebung stammt vom Verfasser.

[10] Die „Denkschrift über Angelegenheiten der Anthroposophischen Gesellschaft in den Jahren 1025 – 1935“ ist kurz vor der Generalversammlung 1935 erschienen und enthielt die wesentlichen Begründungen für die Ausschlüsse, die 1935 erfolgten. Herausgegeben von insg. 12 Mitgliedern. Die Verteilung erfolgte über die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft bis 1949. Vollständig wiedergegeben ist der Inhalt der Denkschrift in dem 3 Bd. der Dokumentation über Ita Wegman von Emanuel Zeylmans van Emmichoven.

[11] Nachrichtenblatt Nr. 39 vom 25.09.1949.

[12] Es ging um die Rechte an dem Nachlass Rudolf Steiners. A. Steffen hatte die Rechte Marie Steiners ursprünglich anerkannt, dies war in der Denkschrift dokumentiert. Jetzt 1949 beanspruchter er die Rechte an dem Nachlass für die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft. Tatsächlich wurde die Denkschrift in dem folgenden Rechtsstreit als Beweismittel verwendet.

[13] „David Clement erzählte dem Herausgeber [Thomas Meyer] dass E. Pfeiffer es nach einem Besuch in England als einen Fehler bezeichnet habe, die Denkschrift unterzeichnet zu haben.“, aus „Ein Leben für den Geist. Ehrenfried Pfeiffer (1899-1961)“, Hrsg. Thomas Meyer, Perseus Verlag, 1999, S. 218.

[14] Die Rolle des „Restvorstandes“, der die Verbreitung der Denkschrift durch die Gesellschaft über 14 Jahre ermöglicht hat, ist zu komplex, um hier dargestellt zu werden. Näheres dazu findet sich in Band 3 der Dokumentation von E. Zeylmans.

[15] Nachrichtenblatt Nr. 18, 02.05.1965.

[16] „Die Wege der richterlichen Rechtsfindung“ von Dr. A. Egger, Philosophisch-Anthroposophischer Verlag am Goetheanum, 1952.

[17] Ein Hinweis zur Methodik: Es wird unterstellt, mit der Aufhebung der Beschlüsse solle die Abberufung rückgängig gemacht werden.

[18]Aus: „Anthroposophie weltweit“ 5/17.

[19] Auf die genannten Rechtsfolgen wird weiter unten im Text eingegangen.

[20] Mitteilungsorgan der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden.

[21] Richtigstellungen in „Anthroposophie weltweit“ 6/17 und „Das Goetheanum“, Nr. 22/2017.

[22] Protokoll der Generalversammlung in „Anthroposophie weltweit“ 5/17.

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