Was in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft noch vorgeht

«Wir leben in einer katastrophalen Zeit. Es wäre natürlich durchaus falsch, wenn man glauben wollte, dass dasjenige, was im Weihnachtssinn katastrophal ist, auch im Ostersinn katastrophal sein müsste. Aus dem Katastrophalen von heute kann sich allerdings gerade das Umgekehrte, das Größte des Menschen Schaffens ergeben, wenn die Menschheit Mittel und Wege findet, um von dem zu lernen und mit geradem Sinne hinzuschauen auf dasjenige, was eingetreten ist.»[1]

Im ersten Teil («100 Jahre AAG?») wurde auf drei verschiedene Zeitstränge im 33 Jahres-Rhythmus hingewiesen, die sich aus den drei Gründungs-Terminen der Anthroposophischen Gesellschaft ergeben:

  • Eigentliche Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft: 1902 – 1935 – 1968 – 2001/2
  • Gründung der AG in Köln und Johannes-Bau-Impuls:           1912 – 1945 – 1978 – 2011/12
  • Weihnachtstagung und Neugründung der AG:                        1923 – 1956 – 1989 – 2022/23

Mit Blick auf diesen Rhythmus wurde deutlich, dass insbesondere die Gründungsimpulse von 1902 und 1912 nach jeweils 33, 66 bzw. 99/100 Jahren durch die Auseinandersetzungen in den zentralen Gesellschaftskonflikten verdeckt und vergessen wurden. Die Folgen waren schon rein menschlich zerstörerisch und führten zu Spaltungen, ganz abgesehen von der Missachtung bzw. dem Vergessen der ursprünglichen spirituellen Impulse und der Möglichkeit einer Neuergreifung zu diesen Zeitpunkten. «Denn nachher ist nichts mehr zu erreichen auf demjenigen Wege, auf dem das in dem genannten Zeitraume erreichbar gewesen wäre.»[2] Die Handreichungen aus der geistigen Welt waren nicht ergriffen worden. So stehen wir jetzt, 2022/2023, vor der wohl allerletzten Gelegenheit (für lange Zeit) das wiederum bestehende Entgegenkommen aus der geistigen Welt zu ergreifen.

Auf die konkreten Impulse, die mit der Weihnachtstagung verbunden waren, wird noch zurückzukommen sein.

Der Versuch, abstrakt und akademisch zu ergründen, ob es sich nun um 3 x 32 ⅓, ganze 33 oder 33 ⅓ Jahre handelt,[3] wird nicht weiterführen.[4] Es wird einen zeitlichen Spielraum geben und von 99 Jahren ausgehend korrespondiert das ganze Jahr 2022 mit dem ganzen, sogenannten Schicksalsjahr 1923. Es war das Jahr, in dem Rudolf Steiner versuchte die Gesellschaft vor dem endgültigen Zerfall zu retten, so wies er z.B. an der Delegierten-Tagung Ende Februar 1923 in Stuttgart darauf hin, «dass von diesen drei Tagen das Schicksal der Gesellschaft abhängt.»[5] In diesem Zusammenhang hielt er auch die Vorträge zur Gemeinschaftsbildung (in GA 257).

Wenn man sich vergegenwärtigt, welch apokalyptische Zukunfts-Perspektiven für die Menschheit  Rudolf Steiner der Mitgliedschaft nach der Weihnachtstagung eröffnete, für den Fall, dass diese und die Impulse der Anthroposophie nicht genügend aufgenommen und verstanden würden, so tritt das Gesellschaftsschicksal deutlich in den Hintergrund. Rudolf Steiner begann am 1. Juli 1924 über das Karma der Anthroposophen und das der Anthroposophischen Gesellschaft zu sprechen und wies auf die weit über die Gesellschaftsverhältnisse hinausragenden Konsequenzen hin, die sich aus einer ungenügenden Aufnahme der Anthroposophie und der damit verbundenen Impulse ergeben würden. Es müsse eine «spirituelle Erneuerung, die auch das Intellektuelle in das Spirituelle heraufführt, mit dem Ende des 20. Jahrhunderts» eintreten, es bedürfe einer «Wiederspiritualisierung der Kultur im 20. Jahrhundert.» «Dass das eintrete, dürfen sich die Menschen des 20. Jahrhunderts nicht verscherzen! Da aber alles heute vom freien Willen abhängt, so hängt, dass dies eintrete, auch davon ab, ob die Anthroposophische Gesellschaft versteht, im rechten Sinne hingebend die Anthroposophie zu pflegen.» [6] Und weiter:

«Ich habe angedeutet, wie diejenigen Menschen, die mit völliger Intensität drinnen stehen in der anthroposophischen Bewegung, am Ende des Jahrhunderts wiederkommen werden, dass sich dann andere mit ihnen vereinigen werden, weil dadurch eben jene Rettung der Erde, der Erdenzivilisation vor dem Verfall letztgültig entschieden werden muss.»[7]

«Finden sich solche ehrlichen Anthroposophenseelen, die die Spiritualität in dieser Weise in das Erdenleben hineintragen wollen, dann wird es eine Bewegung nach aufwärts geben. Finden sich solche Seelen nicht, dann wird die Dekadenz weiterrollen. Der Weltkrieg mit all seinen üblen Beigaben wird nur der Anfang von noch Üblerem sein. Denn es steht heute die Menschheit vor einer großen Eventualität: vor der Eventualität, entweder in den Abgrund hinunterrollen zu sehen alles, was Zivilisation ist, oder es durch Spiritualität hinaufzuheben, fortzuführen im Sinne dessen, was im Michael-Impuls, der vor dem Christus-Impuls steht, gelegen ist.»[8]

«Kann so gearbeitet werden, wie es von Michael vorbestimmt, prädestiniert ist, dann kommt Europa, dann kommt die moderne Zivilisation heraus aus dem Niedergang. Aber auf keine andere Weise sonst! Dieses Herausführen der Zivilisation aus dem Niedergang ist verbunden mit dem Verständnis von Michael. […] Es geht um Großes, es geht um Riesiges!»[9]

«Und im Laufe dieses 20. Jahrhunderts, wenn das erste Jahrhundert nach dem Kali Yuga verflossen sein wird, wird die Menschheit entweder am Grabe aller Zivilisation stehen oder am Anfang desjenigen Zeitalters, wo in den Seelen der Menschen, die in ihrem Herzen Intelligenz mit Spiritualität verbinden, der Michael-Kampf zugunsten des Michael-Impulses ausgefochten wird.»[10]

Rudolf Steiner hatte mit seinen Äusserungen gewiss vor Augen, welche Abgründe und Katastrophen Mitteleuropa bevorstünden, wenn der Nationalsozialismus in Deutschland herrschende Kraft würde. Dieser aus alten und vollkommen unzeitgemässen okkulten Impulsen gespeisten Bewegung[11] hätte nur Einhalt geboten werden können durch ein Erkennen und ein genügendes Ergreifen der notwendigen spirituellen Impulse. Denn auch diese menschenverachtende und zerstörerische okkulte Bewegung, die ja keineswegs mit dem Dritten Reich untergegangen ist, schöpfte und schöpft aus entsprechenden Quellen:

«Während Michael oben seine Scharen schulte, wurde eine Art unterirdischer, unmittelbar unter der Oberfläche der Erde liegende ahrimanische Schule gegründet. Daher kann man davon sprechen, dass im Überirdischen die Michael-Schule ist; unmittelbar in der Region, auf der wir stehen – denn auch im Unterirdischen ist Geistiges tätig und wirksam -, wurde die ahrimanische Gegenschule begründet. Und wenn von Michael jetzt gerade in dieser Zeit keine Impulse herunterströmten, um die Intelligenz himmlisch zu inspirieren, wenn die Intelligenz auf der Erde sich zunächst selbst überlassen war, so bemühten sich umso mehr die ahrimanischen Scharen, von unten herauf Impulse in die intelligente Menschheitsentwickelung hineinzusenden. Es ist ein gewaltiges Bild, das einem da vor Augen stehen kann. Man stelle sich vor: die Erdoberfläche, oben Michael, seine Scharen belehrend, ihnen mit großen gewaltigen Weltenworten das enthüllend, was die alte Initiatenweisheit war; dem gegenüberstehend die ahrimanische Schule in den Untergründen der Erde. Auf der Erde sich entwickelnd die vom Himmel herabgefallene Intelligenz; Michael zunächst gegenüber dem Irdischen in himmlischer Einsamkeit Schule haltend – keine Strömungen gehen von oben nach unten – , die ahrimanischen Mächte umso mehr ihre Impulse nach oben sendend.»[12]

Dieses Widersacherwirken, welches sich seit dem Sturz der Geister der Finsternis zum Ende des 19. Jahrhunderts erheblich verstärkt hatte, ist gewiss nach wie vor Realität im Weltgeschehen. Und auch der Materialismus, hat sich seit 1879 erheblich gesteigert. Die Widersacher und deren Wirken sind Realitäten und mehr denn je aktiv, man denke nur an Rudolf Steiners Aussagen zu 1998 (in GA 346), der zu erwartenden Inkarnation Ahrimans (in GA 192 und GA 193) und der Hinweise zu den Hintergründen des Weltgeschehens (in «Zeitgeschichtliche Betrachtungen», u.a. in GA 173).

«Und die materialistische Weltanschauung kann genannt werden: die große Verschwörung gegen den Geist. Diese materialistische Weltanschauung ist nicht bloß ein Irrtum, sie ist eine Verschwörung, die Verschwörung gegen den Geist.»[13]

1923

Für die Entwicklung des Jahres 1923 kommen zumindest zwei Aspekte in Betracht: Einerseits die Gesellschaftssituation und andererseits die sich anbahnende Katastrophe in Mitteleuropa durch den Nationalsozialismus.

Die Gesellschaft hatte sich nicht wie erhofft entwickelt. Es hatte sich ab 1914 eine «innere Opposition», eine innere Gegnerschaft gebildet. Nach dem Krieg konnte die esoterische Arbeit aus inner-gesellschaftlichen Gründen nicht wieder aufgegriffen werden. Auf der anderen Seite nahm das öffentliche Interesse an der Anthroposophie zu und erreichte 1922 einen Höhepunkt.[14] Auch wenn die äussere Gegnerschaft stark zugenommen hatte, lag der hauptsächliche Grund dafür, dass Rudolf Steiner sein öffentliches Wirken nahezu vollständig aufgeben musste, in dem ungenügenden inneren Rückhalt und Verständnis aus der Mitgliedschaft. Die Situation kulminierte zum Jahreswechsel 1922/23 mit dem Brand des Goetheanum – weder er selber noch der Bau konnten durch die Mitgliedschaft ausreichend geschützt werden. Das Folgejahr 1923 war geprägt von dem Versuch, die gesamte Situation zu konsolidieren, um überhaupt weiterarbeiten zu können – allerdings erwies sich die Gesellschaft als weitgehend konsolidierungsresistent, sodass Rudolf Steiner erwog, die anthroposophische Bewegung ausserhalb der Gesellschaft weiterzuführen, sich aus dieser gänzlich zurückzuziehen.[15] Und die Dreigliederungs-Bemühungen mussten als gescheitert bezeichnet werden:

«Man möchte sagen, als von dem Dreigliederungsimpuls im sozialen Leben gesprochen worden ist, da war das gewissermaßen eine Prüfung, ob der Michael-Gedanke schon so stark ist, dass gefühlt werden kann, wie ein solcher Impuls unmittelbar aus den zeitgestaltenden Kräften herausquillt. Es war eine Prüfung der Menschenseele, ob der Michael-Gedanke in einer Anzahl von Menschen stark genug ist. Nun, die Prüfung hat ein negatives Resultat ergeben. Der Michael-Gedanke ist noch nicht stark genug in auch nur einer kleinen Anzahl von Menschen, um wirklich in seiner ganzen zeitgestaltenden Kraft und Kräftigkeit empfunden zu werden.»[16]

Bereits ein Jahr zuvor: «Denn der Zeitpunkt, wo man das, was in den ‹Kernpunkten der sozialen Frage› steht, realisieren sollte, der ist vorüber für Mitteleuropa.»[17]

Wie sehr sich die Situation in Bezug auf die Dreigliederung bereits 1923 geändert hatte, brachte er an der Weihnachtstagung, am 31. Dez. 1923 zum Ausdruck: «Wenn heute einer die Dinge [die Dreigliederung] in derselben Weise vertritt, mit der man sie 1919 vertreten hat, man da um Jahrhunderte zurückgeblieben ist.»[18]

Aber das Jahr 1923 war auch in anderer Hinsicht ein Schicksalsjahr – insbesondere für Mitteleuropa, und weit darüber hinaus.

In Deutschland entwickelte sich der Nationalsozialismus, eine zweifellos «antianthroposophische Bewegung»,[19] die auch an den Störungen und Angriffen auf Rudolf Steiner in München und Velbert beteiligt war. Insbesondere der 9. Nov. 1923, an dem der blutig niedergeschlagene Ludendorff-Hitler-Putsch stattfand, wurde von ihm sehr ernst genommen (rückblickend zu Recht, denn das Geschehen führte zu einem schwarzmagischen Totenkult und der 9. November war der höchste Feiertag im Dritten Reich[20]). Er reagierte sofort, als er am 10. November Kenntnis von dem Putsch genommen hatte und beschloss, den Berliner Wohnsitz aufzugeben und den Philosophisch-Anthroposophischen Verlag nach Dornach zu verlegen.[21] Zu dem Putsch äusserte er sich wie folgt: «Wenn diese Gesellschaft sich durchsetzt, bringt dies für Mitteleuropa eine große Verheerung.»[22]

Rudolf Steiner waren die okkulten Hintergründe des Nationalsozialismus sehr bewusst, ebenso wie das mögliche Schicksal Mitteleuropas, die Gefahren für die Menschheitsentwicklung und für die Erdenmission, wenn sich diese Kräfte durchsetzen könnten. Insofern war die Weihnachtstagung und die Neugründung keineswegs eine reine Gesellschaftsangelegenheit, mit dem erhofften «Welten-Zeitenwende-Anfang» ging es um die Rettung der Menschheitsmission, wie aus den oben angeführten Zitaten deutlich hervorgeht, es ging um die «Rettung der Erde, der Erdenzivilisation vor dem Verfall.»[23]

Mit Blick auf diesen Hintergrund kann verständlich werden, warum Rudolf Steiner die erheblichen Risiken einging, die mit der «Tat» der Weihnachtstagung und der Neugründung verbunden waren.  Einerseits bestand das Risiko, dass der Strom der Offenbarungen abbrechen könnte, wenn die Tat von der geistigen Welt nicht angenommen würde. Andererseits kam nun alles darauf an, dass die Mitgliedschaft in genügendem Masse die Impulse verstehen und ergreifen würde. Andernfalls könnte die Situation eintreten, dass es «besser gewesen [wäre], man hätte sich [zur Weihnachtstagung] nicht versammelt.»[24] Noch deutlicher hatte sich Rudolf Steiner gegenüber Ita Wegman geäussert:

«Mächtig war dann die Weihnachtstagung. Sie war so mächtig, dass Rudolf Steiner sogar zu mir sagte, dass nachdem er alle Elemente, alle Geistigkeit aufgerufen habe, und wenn die Menschen von jetzt ab nicht auch geistig sich entwickeln würden, ein ungeheurer Rückschlag eintreten würde. ‹In früheren Zeiten›, sagte er noch‚ ‹hätte ein Mensch, der einen solchen esoterischen Akt vollzogen hätte, dieses vielleicht sogar mit einem plötzlichen Tod bezahlen müssen. Jetzt mit der Christuskraft sind solche Dinge möglich, und weil die Menschheit in ihrem jetzigen Zustand es braucht, müsse man das Vertrauen, auch den Mut dazu haben, solche gewaltigen Dinge zu tun.›»[25]

So war 1923 eine Gelegenheit gegeben, einerseits zu einer Gemeinschafts- bzw. Gesellschaftsbildung, im Sinne einer Bruderschaft (wie im ersten Teil ausgeführt), welche für einen «Welten-Zeitenwende-Anfang» notwendig gewesen wäre. Und andererseits bestand die Möglichkeit, den aus alten, vorchristlichen Herrschaftsimpulsen wirkenden nationalsozialistischen Intentionen einen zukunftsfähigen, freiheitlich-spirituellen Entwicklungsimpuls entgegenzustellen.

1956

Es würde an dieser Stelle zu viel Raum einnehmen, die relevanten Ereignisse der Jahre 1956 und 1989 ausführlich zu beschreiben. Dies wird nur in aller Kürze möglich sein, weitere Informationen finden sich im Internet, für einen ersten Überblick sind die Darstellungen bei Wikipedia durchaus geeignet.

Ungarn

Nach dem 2. Weltkrieg war Ungarn Bestandteil des Warschauer Pakts, hatte eine autoritäre kommunistische Regierung und das sowjetische Militär war als Besatzungsmacht im Land stationiert. Schon 1955 entstand eine Freiheitsbewegung, die dann im Jahr 1956 auch politische Forderungen stellte (z.B. die Unabhängigkeit studentischer Organisationen). Wohl angeregt durch den polnischen Arbeiteraufstand des gleichen Jahres, durch den die Besetzung des Postens des ersten Sekretärs des Zentralkomitees gegen den Willen der Sowjets durchgesetzt und eine militärische Intervention abgewendet werden konnte, kam es am 23. Oktober zu einer friedlichen studentischen Demonstration in Budapest. Diese eskalierte, als die Regierung am Abend in die schnell wachsende Menge schiessen liess. Damit entstand eine bewaffnete Auseinandersetzung, die Regierung wurde gestürzt und durch eine aus verschiedenen Parteien gebildete ersetzt. Der Warschauer Pakt wurde gekündigt und Ungarn für neutral erklärt. Dem inzwischen verstärkten sowjetischen Militär war diese von breiten Schichten getragene Revolution jedoch nicht gewachsen, der Aufstand wurde bereits am 4. November 1956 militärisch niedergeschlagen. In der nachfolgenden Säuberung wurden hunderte Aufständische durch die Machthaber hingerichtet, zehntausende wurden eingekerkert oder interniert und hunderttausende Ungarn flüchteten in den Westen. Der Impuls, liberale und menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen, war zunächst gescheitert. Ein Erfolg hätte schon damals den Zusammenhalt des Ostblocksystems in Frage gestellt. Der Westen hatte offensichtlich kein Interesse an Veränderungen, ausser verbalen Äusserungen gab es keine Unterstützung für die Aufständischen. Der 23. Oktober wurde 1989, 33 Jahre später, zum Nationalfeiertag erklärt.

Ägypten – Naher Osten

Etwa zur gleichen Zeit versuchte Ägypten sich aus der Übermacht der Kolonialmächte zu befreien. Im Vordergrund standen die Nutzungsrechte des Suezkanals. Dieser wurde 1956 von dem ägyptischen Regierungsoberhaupt Abdel Nasser verstaatlicht. Nach ergebnislos verlaufenen Verhandlungen erfolgte eine gemeinsame militärische Intervention und Besetzung ägyptischen Staatsgebietes durch französisches, englisches und israelisches Militär («Suez-Krise», «Sinai-Feldzug»). In ungewöhnlicher Einigkeit erzwangen die USA gemeinsam mit der UdSSR mithilfe der UNO die Beendigung der Besetzung. Auch wenn Ägypten militärisch hoffnungslos unterlegen war, konnte es so politisch einen Sieg für sich proklamieren. Der von den Angreifern geplante und erhoffte Sturz Abdel Nassers wurde nicht erreicht und der Suezkanal stand fortan unter ägyptischer Kontrolle.

Deutlich konnten die Hegemonial-Mächte ihre Interessen durchsetzen und die Liberalisierungsbestrebungen der Bevölkerung verhindern. Dies galt auch für Ägypten, welches sich fortan enger mit der UdSSR verbündete. Die der freiheitlichen Entwicklung entgegenstehenden Kräfte konnten sich mit militärischer Gewalt durchsetzen.

1989

Die Ereignisse von 1989 sind vielen Zeitgenossen noch geläufig, so kann hier auch nur an weniges erinnert werden. Es war das Jahr, in dem das «sozialistische Experiment»[26] nach 72 Jahren endete bzw. beendet wurde. Gewiss hatten die beharrlichen Demonstrationen, die in der damaligen DDR insbesondere von den Montagsgebeten in der Nikolaikirche in Leipzig ausgingen und im Herbst sehr schnell zu grossen Demonstrationen führten, einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung. Andererseits scheint es aber auch irgendeine Art von Einvernehmen sowie Absprachen im Hintergrund gegeben zu haben, dieses Experiment nun zu beenden. Dennoch bleibt für diejenigen, die diese Vorgänge miterleben bzw. mitverfolgen konnten, das damalige Geschehen eindrucksvoll. Man erinnere sich an die Besetzung der Botschaft in Prag, die Reaktionen auf die Ausreisegenehmigungen und die Bilder des 9. November 1989, als die Mauer fiel. Aber schon zuvor, im Juli und August, hatte ausgerechnet Ungarn zumindest teilweise die Grenze geöffnet und liess DDR-Bürger ungehindert ausreisen.

So schien das westlich orientierte, vermeintlich freiheitliche Modell der repräsentativen Demokratie auch im ehemaligen Ostblock seinen Siegeszug fortzusetzen.

2022

Inzwischen sollte sich weitgehend gezeigt haben, dass gerade mit dem Modell der repräsentativen Demokratie einerseits und mittels angeblicher Wissenschaftlichkeit andererseits die Grundrechte in der ebenfalls vermeintlichen freien Welt massiv eingeschränkt wurden – und kaum zu erwarten ist, dass diese in vollem Umfang innerhalb der bestehenden politischen Systeme wiederhergestellt werden. Gerade in den letzten Jahren, vor der sogenannten Pandemie, wurde durch Prof. Rainer Mausfeld deutlich herausgearbeitet, dass es sich bei der repräsentativen Demokratie nur vermeintlich um Demokratie handelt. Inzwischen sollte sich in breiteren Kreisen die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass es eine kleine Gruppe von Oligarchen ist, die versuchen, die Welt zu beherrschen. Denn es zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass die «repräsentative Demokratie» als Mittel «zur Verhinderung von Demokratie»[27] installiert wurde, wie Rainer Mausfeld eindrücklich beschreibt: «Die Erfinder dieses Modells [der repräsentativen Demokratie], die Gründerväter der amerikanischen Verfassung, entwickelten mit diesem Konzept einen Demokratiebegriff, der seiner Natur nach das Modell einer wirklichen, also partizipatorischen Demokratie auf der Basis einer ungeteilten souveränen Selbstgesetzgebung des Volkes ausschloss. Für diese Form einer durch demokratische Wahlen legitimierten Oligarchie [Herrschaft von wenigen] wurde die Bezeichnung ‹Demokratie› beibehalten, um das Bedürfnis des Volkes nach einer Volksherrschaft zu befriedigen – und zwar durch die Illusion von Demokratie.»[28]

Als in Deutschland nach dem Kaiserreich um ein neues politisches System gerungen wurde, sagte Rudolf Steiner dazu:

«Man kann sich kaum etwas Unglücklicheres denken als den Aberglauben, dass es einen Zauber bewirken werde, wenn man zu dem übrigen, was man sich hat von England gefallen lassen, nun auch noch das fügt, dass man sich die demokratische Schablone von ihm aufdrängen lässt. Damit soll nicht gesagt werden, dass Mitteleuropa nicht im Sinne einer inneren politischen Gestaltung eine Fortentwickelung erfahren solle, allein eine solche darf nicht die Nachahmung des westeuropäischen sogenannten Demokratismus sein, sondern sie muss gerade dasjenige bringen, was dieser Demokratismus in Mitteleuropa wegen dessen besonderer Verhältnisse verhindern würde. Dieser sogenannte Demokratismus ist nämlich nur dazu geeignet, die Menschen Mitteleuropas zu einem Teile der englisch-amerikanischen Weltherrschaft zu machen, und würde man sich dazu auch noch auf die sogenannte zwischenstaatliche Organisation der gegenwärtigen Internationalisten einlassen, dann hätte man die schöne Aussicht, als Mitteleuropäer innerhalb dieser zwischenstaatlichen Organisation stets überstimmt zu werden.»[29]

Aktuell gibt es auch aus der Bevölkerung heraus Bestrebungen zu einer Liberalisierung der Verhältnisse, man denke nur an die vielen Demonstrationen 2020 und derzeit die zahlreichen Spaziergänge in Deutschland, an denen Hunderttausende teilnehmen an mehr als 1.500 Orten. Wie 1989 in der DDR wird an einigen Orten versucht, «runde Tische» mit den örtlichen Politikern zu initiieren und mit diesen ins Gespräch zu kommen. Zu diesem Widerstand gegen die als unangemessen angesehenen Corona-Massnahmen gehören auch die Trucker-Proteste in Kanada, die aktuell Widerstandsbewegungen in anderen Ländern als Anregung dienen. Deutlich ist, dass hier Bewegungen aus der Bevölkerungen entstehen – der einzig angemessene und zeitgemässe Weg, unsere sozialen Verhältnisse zu gestalten. An dieser Stelle sei auch auf das aktuell wachsende Interesse an der Dreigliederung nebst entsprechenden Initiativen hingewiesen.

Schlussfolgerung und Ausblick

Als Rudolf Steiner damals auf den 33-Jahres Rhythmus hinwies, konnte man diesen zunächst nur im Rückblick auf die gewordene Geschichte anwenden. Seitdem dieses Wissen jedoch in der Welt ist, können wir uns nicht damit begnügen. Wenn es also richtig ist, dass nun, nach 99 Jahren eine besonders günstige Gelegenheit besteht, sich um die damaligen Impulse (im Sinne einer letzten Gelegenheit) zu deren Erneuerung bzw. Aufgreifen oder gar Realisieren mit besonderer Unterstützung aus der geistigen Welt zu bemühen, so ergibt sich für den, der dies erkennt, eine Mitverantwortung für die weitere Entwicklung, für das Geschehen in der Welt. Wenn man mit diesem Blick konkret auf das Jahr 1923 schaut, so ergeben sich zunächst folgende Aufgabenfelder – ganz unabhängig von einem gesellschaftlichen oder institutionellen Zusammenhang:

  • Rudolf Steiner hat damals insbesondere den Verantwortlichen der Gesellschaft schonungslos den Spiegel vorgehalten, drängte auf (Selbst-)Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse, in dem Sinne, dass nur auf der «Grundlage der Erkenntnis der Mangelhaftigkeiten – die ja wohl zugegeben werden –, also der konkreteren Erkenntnis desjenigen, was mangelhaft ist, zu einer Gestaltung des Positiven geschritten»[30] werden kann. Die notwendige gesellschaftliche Selbsterkenntnis war damals nicht möglich. Hier stellt sich die Frage, ob es heute anders ist? Die Aufgabe, den Spiegel vorzuhalten, kann heute nur aus der Mitgliedschaft ergriffen werden  und bedarf erfahrungsgemäss einer gewissen Öffentlichkeit. Zum Teil geschieht dies immer wieder, eine Bündelung, der Versuch, eine Überschau zu ermöglichen, könnte die Voraussetzung für ein weiteres Vorgehen sein, welches zur «Gestaltung des Positiven» führen könnte.
  • Als weiteres wurde von Rudolf Steiner auf die Notwendigkeit der Gemeinschaftsbildung hingewiesen, im Sinne eines umgekehrten Kultus, somit eine mit spirituellem Bewusstsein durchdrungene Gemeinschaftsbildung. Dies war nicht in dem erforderlichen Masse entstanden, bereits 1905 war auf die Notwendigkeit und die daraus entstehenden Möglichkeiten hingewiesen worden: «Vereinigung bedeutet die Möglichkeit, dass ein höheres Wesen durch die vereinigten Glieder sich ausdrückt. … So sind die menschlichen Vereinigungen die geheimnisvollen Stätten, in welche sich höhere geistige Wesenheiten herniedersenken, um durch die einzelnen Menschen zu wirken, wie die Seele durch die Glieder des Körpers wirkt. … Zauberer sind die Menschen, die in der Bruderschaft zusammen wirken, weil sie höhere Wesen in ihren Kreis ziehen. … Der Zukunft obliegt es, wieder Bruderschaften zu begründen, und zwar aus dem Geistigen, aus den höchsten Idealen der Seele heraus.»[31] Damit liegt eine Aufgabe vor, die nur in einem konkreten überschaubaren menschlichen Zusammenhang realisierbar ist. Rudolf Steiner hielt die Vorträge zur Gemeinschaftsbildung am 27. und 28. Febr. 1923 an der damaligen Delegiertentagung in Stuttgart (und anschliessend in Dornach vor der dort lebenden Mitgliedschaft). Damit war gewiss die Hoffnung verbunden, dass die Zuhörer diese Gedanken in ihre konkreten menschlichen Verhältnisse trugen, damit diese die erforderliche spirituell-gemeinschaftliche Grundlage für den notwendigen Gesellschaftszusammenhang bilden konnten.

Aber haben wir das alles nicht schon zur Genüge versucht und sind immer wieder gescheitert? Gewiss, aber ging es Rudolf Steiner anders? Trotz verständlicherweise bestehender Frustrationen und Resignationen könnten individuelle und gemeinschaftliche Bemühungen, ausgehend von den Initiativen einzelner, gerade jetzt lohnen, längst aufgegebenen Ideen und Hoffnungen doch noch aufleben zu lassen. Wenn es richtig ist, dass jetzt besondere Möglichkeiten bestehen, auch im Sinne einer letzten Gelegenheit, so müsste das doch bemerkbar sein!

Das Jahr 2022 hat gerade erst begonnen. Es ist noch einiges möglich.

Nachtrag

Dieser Beitrag war bereits fertig, als am 22. Febr. 2022 russisches Militär aktiv in den schwelenden Ukraine-Konflikt eingriff. Mit unerwarteter Deutlichkeit wird der Bezug zu den vergangenen Ereignissen offenbar, denn es ist wiederum eine Ost-West-Auseinandersetzung, die nun zu einem heissen Konflikt geworden ist – wir wissen nicht, was daraus werden wird. Vor 3 x 33 Jahren wurden die Weichen gestellt, die zu den Ost-West-Auseinandersetzungen führten. Denn hätten das Dritte Reich und die Naziherrschaft verhindert werden können, wäre die Spiritualisierung der Zivilisation aus der Anthroposophie heraus möglich geworden, hätte dieser Ost-West-Gegensatz sich nicht in dieser Schärfe ausleben müssen, wie es geschehen ist, und wie wir es jetzt wieder erleben. Aktuell werden nun die ganzen Illusionen offenbar, die mit den Ereignissen von 1989 verbunden waren.

Thomas Heck, 27. Februar 2022


[1] GA 180, 1980, S. 81.

[2] GA 185, 1982, S. 95.

[3] Eine schlüssige Begründung mit konkretem Bezug auf Rudolf Steiner, dass es sich doch um 3 x 33 1/3 Jahre handeln würde, habe ich bisher nicht erhalten. Insofern gehe ich von 99 Jahren aus, auch wenn 99/100 geschrieben wird.

[4] Wer sich mit dieser Frage näher beschäftigen möchte, sei die Übersicht von Jens Göken «Das Gesetz der 3 x 33 Jahre» empfohlen: www.wtg-99.com/33Jahre.

[5] GA 259, S. 390.

[6] GA 240, 1977, S. 161.

[7] GA 237, S. 142, Dornach, 3. August 1924

[8] GA 240, 1992, S. 307,

[9] GA 240, S. 180.

[10] GA 240, S. 183.

[11] TH in www.wtg-99.com/Rundbrief_08 und www.wtg-99.com/Rundbrief_15 . Dieter Schäfer: «Der Christus-Diener und das Sorat-Medium», ENB 17/2019.

[12] GA 240, 1992, S. 191.

[13] GA 254, 1986, S. 266.

[14] Rudolf Steiner sprach vor vollen Sälen, z.B. in der Berliner Philharmonie mit 1.600 Plätzen und beim Ost-West-Kongress in Wien vor 2.000 Zuhörern.

[15] Ausführungen zu den möglichen Konsequenzen in TH, «Ein aphoristisches Fragment», https://wtg-99.com/Aphoristisches-Fragment.

[16] GA 223, 1990, S. 50f., Dornach 1923.

[17] GA 305, 1991, S. 205, Oxford 1922.

[18] GA 260, S. 219.

[19] Nach Karl Heyer.

[20] Siehe hierzu: TH, «Zum 9. November», Rundbrief 8, https://wtg-99.com/Rundbrief_8.

[21] GA 259, S. 862f.

[22] Karl Lang, Lebensbegegnungen, S. 67, hier zitiert nach GA 259

[23] GA 238, 1991, S. 142.

[24] GA 260a, 1987, S. 92. (Hervorhebung vom Verfasser.)

[25] Zitiert nach Emanuel Zeylmans van Emmichoven, «Wer war Ita Wegman», Bd. 2.

[26] GA 174b, 1994, S. 359f.

[27] Rainer Mausfeld: «Die Angst der Machteliten vor dem Volk». Transkript eines Vortrages. Quelle: https://www.uni-kiel.de/psychologie/mausfeld/pubs/Mausfeld_Die_Angst_der_Machteliten_vor_dem_Volk.pdf.

[28] Rainer Mausfeld: «Warum schweigen die Lämmer», 2. Aufl., o.J., Westend-Verlag. Im Internet sind viele Vorträge von Rainer Mausfeld zu finden, zumeist Videos, aber auch Transskripte.

[29] GA 24, 1982, S. 350, «Erstes Memorandum», Juli 1917,

[30] GA 259, S. 377, Stuttgart 26. Februar 1923.

[31] GA 54, 1983, S. 192f. und GA 265, 1987, S. 122.

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