Interview

Weleda-Chefin Tina Müller: «Ich sehe unsere Kosmetik nicht in der esoterischen Ecke»

Sie war Marketingchefin bei Opel und CEO bei der Parfümeriekette Douglas. Nun will die deutsche Managerin bei der anthroposophischen Kosmetikfirma Weleda eine Premium-Linie lancieren und die notorisch defizitäre Arzneimittelsparte profitabel machen. Wie soll das klappen?

Dieter Bachmann, Arlesheim 8 min
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«Wenn Marken stehenbleiben, geraten sie irgendwann in Vergessenheit», sagt die Weleda-Chefin Tina Müller.

«Wenn Marken stehenbleiben, geraten sie irgendwann in Vergessenheit», sagt die Weleda-Chefin Tina Müller.

Henning Ross

Frau Müller, als Chefin der Parfümerie Douglas hatten Sie mit CVC einen Finanzinvestor als Eigentümer im Nacken, bei Weleda sind es die Anthroposophen. Was ist anstrengender?

Unter einem Private-Equity-Eigentümer braucht es wertmaximierende Entscheidungen, das war eine sehr positive Erfahrung. Bei Weleda geht es nicht darum, die Firma möglichst rasch auf Gewinn zu trimmen, um sie erfolgreich weiterzuverkaufen. Es ist, ohne das bewerten zu wollen, eine andere Art des Wirtschaftens mit einer hohen Verantwortung für den Planeten und die Gesellschaft.

Weleda hat 2022 einen Verlust geschrieben und kämpft seit Jahren immer wieder mit finanziellen Problemen. Mit homöopathischen Massnahmen wird das Unternehmen nicht gesunden. Wo setzen Sie an?

Wir wollen wachsen, und zwar nachhaltig und profitabel. Damit sind wir in den vergangenen Monaten schon weiter vorangekommen, als viele denken: Für das Geschäftsjahr 2023 werden wir einen Betriebsgewinn im zweistelligen Millionenbereich ausweisen! Und wir haben noch viel Potenzial: Weleda macht fast die Hälfte des Umsatzes in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dort ist noch Luft nach oben. Eine hohe Dynamik sehen wir zurzeit unter anderem in den USA, England oder Osteuropa. Hier wachsen wir zweistellig. Perspektivisch sehen wir eine Verdoppelung des Umsatzes von heute rund 430 Millionen Euro bis zum Ende des Jahrzehnts. Kurz: Es geht um Wachstum mit Verantwortung.

In der anthroposophischen Medizin geht es um das Zusammenwirken von physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und der Ich-Organisation. Kommt diese Philosophie auch in der Weleda-Kosmetik zur Anwendung, oder ist ein Duschgel einfach ein Duschgel?

Wir sagen, die Kosmetik ist von der Anthroposophie inspiriert. Ein Weleda-Duschgel ist aber trotzdem nicht einfach ein Duschgel, denn unseres hat 100 Prozent Inhaltsstoffe natürlichen Ursprungs. Wir verkaufen zertifizierte Naturkosmetik. Insofern ist auch unser Duschgel nicht mit einem konventionellen Produkt vergleichbar.

Aber merkt das der Kunde auch? Im Warenhaus oder im Supermarkt ist die Auswahl an Produkten, die irgendwas mit Natur zu tun haben, riesig: Body Shop, Kneipp, Rausch, l’Occitane – wozu braucht es da noch Weleda?

Moment mal, wir sind das Original! Uns gibt es seit über hundert Jahren. Und wir setzen alles daran, auch in den nächsten hundert Jahren so erfolgreich zu sein.

Und wie schaffen Sie das?

Eine Antwort lautet: Innovationen. Wir setzen auf neue Produkte, und zwar in einem Segment, das in den letzten Jahren überproportional gewachsen ist: Gesichtspflege. Dazu gehören nicht nur Tages- und Nachtcrèmes, sondern auch ein Serum oder Masken. Anti-Aging ist ein Riesenthema, weil die Menschen auch im höheren Alter vital aussehen möchten. Gleichzeitig fängt die jüngere Generation schon viel früher an, solche Produkte zu verwenden. Auch der Trend zu Clean Beauty, also weg von kritischen Inhaltsstoffen wie Silikon und Paraffin, birgt Potenzial für Weleda.

Und das reicht?

Es gibt noch eine zweite Achse: den Vertriebskanal. Wir forcieren die Digitalisierung und bauen unsere E-Commerce-Kanäle weiter aus, modernisieren die Marke und rücken sie stärker in Richtung Premium. Bei Douglas habe ich das Naturregal eingeführt, aber damals die Marke Weleda nicht ins Sortiment aufgenommen, weil sie vom Design und von der Optik her noch nicht hochwertig genug war für den Parfümeriekanal. Unter dem Namen Weleda Premium haben wir ein neues Projekt gestartet und kommen 2025 mit einer grossen Einführung auf den Markt. Darin steckt viel Potenzial, weil der Parfümeriemarkt stationär und online sehr gross ist.

Das hört sich gut an, braucht aber erst einmal Investitionen in Forschung und Entwicklung und danach ein grosses Marketingbudget.

Im Kosmetikmarkt gibt es kaum technologische Sprünge. Es sind oft einfach neue Applikationsformen oder Inhaltsstoffe. Eigentlich ist alles schon da und muss einfach neu gedacht werden. Darum braucht es keine riesigen Investitionen.

Trotzdem: Weleda macht mit Kosmetik 330 Millionen Euro Umsatz. Wie wollen Sie da mit den L’Oréals dieser Welt um Aufmerksamkeit ringen?

Natürlich werden wir bei einer Einführung im Parfümeriekanal in Marketing investieren. Diese Investitionen können und wollen wir uns auch leisten. Unsere Premium-Linie werden wir nicht sofort global ausrollen, sondern in jenen Ländern, in denen wir heute noch nicht in der Parfümerie vertreten sind.

Eine Marketingspezialistin für den Naturkosmetikpionier

dba. Tina Müller (55) hat nach dem Studium der Volks- und Betriebswirtschaft lange in der Kosmetikbranche gearbeitet (L’Oréal, Wella, Henkel). Einem Abstecher in die Autoindustrie als Marketingchefin von Opel folgte der CEO-Posten bei der Parfümeriekette Douglas. Im Oktober 2023 wurde Müller Mitglied im Aufsichtsrat des Discounters Aldi Nord und Chefin von Weleda. Die Firma mit Sitz in Arlesheim (BL) existiert seit 1921 und geht auf Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie, sowie die Ärztin Ita Wegman zurück. Vom Umsatz von 413 Millionen Euro (2022) entfallen knapp 80 Prozent auf Kosmetik und 20 Prozent auf anthroposophische Arzneimittel. Hauptaktionäre sind die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft und die Klinik Arlesheim, die zusammen 76,7 Prozent der Stimmrechte kontrollieren. Die stimmrechtslosen Partizipationsscheine werden ausserbörslich gehandelt.

Eigentlich könnten Sie bei Weleda den von Ihnen lancierten Opel-Werbespruch «Umparken im Kopf» nochmals einsetzen. Also raus aus der Esoterik-Ecke und hin zu einem trendigen Produkt.

Da würde ich Ihnen zweimal widersprechen. Erstens sehe ich unsere Kosmetik nicht in der esoterischen Ecke, und zweitens trifft es «Umparken im Kopf» nicht wirklich. Die DNA der Marke, zertifizierte Naturkosmetik, wollen wir ja nicht umparken, sondern einfach das Erscheinungsbild und das Marketing etwas zeitgemässer aufstellen.

Aber am Weleda-Logo mit der Waldorfschrift halten Sie fest?

Wir schauen uns das Logo gerade sorgfältig an, wir wollen uns ja insgesamt weiterentwickeln. Wenn Marken stehenbleiben, geraten sie irgendwann in Vergessenheit. Der Chef von Louis Vuitton hat mir einmal gesagt, Markenführung bedeute, 50 Prozent zu erhalten und 50 Prozent zu erneuern. Sie können sicher sein, dass wir das, was Weleda einzigartig macht, erhalten werden.

Welche Folgen haben die ganzen Pläne fürs Personal von Weleda? Müssen Sie Stellen abbauen?

Bereits im letzten Geschäftsjahr haben wir an den Standorten Deutschland und Schweiz zusammen etwa 100 von weltweit rund 2500 Stellen sozialverträglich abgebaut. Neu haben wir für Kosmetik und Pharma je eine eigene Geschäftseinheit geschaffen, damit sie sich besser auf ihre jeweiligen Märkte fokussieren können. Wichtig für uns ist die Frage: Wie können wir Mitarbeitende weiterentwickeln, und wo wollen wir uns verstärken? Gerade im digitalen Bereich brauchen wir Spezialisten. Denn ich sehe grosse Wachstumschancen im E-Commerce. In unseren Heimatmärkten Schweiz und Deutschland haben wir nämlich erst gerade seit vergangenem Dezember beziehungsweise seit diesem Februar überhaupt einen eigenen Online-Shop. In anderen Ländern machen wir damit schon gute Umsätze, und einige unserer Wettbewerber erwirtschaften bereits 40 Prozent ihrer Umsätze mit eigenen Shops und auf Plattformen wie Amazon oder Shop-Apotheke.

Wann ist Weleda so weit?

Bei uns liegt der Online-Umsatz noch im einstelligen Prozentbereich. Im nächsten Schritt wollen wir erst einmal ordentlich zweistellig werden. Dafür brauchen wir auch entsprechende Experten für E-Commerce und Digital-Marketing.

Wie kommt Weleda bei der jungen Kundschaft an?

Immer besser, und das ist sehr gut so! Auf Social Media haben wir den grössten Hebel, um jüngere Zielgruppen anzusprechen. Da gab es zum Beispiel eine Influencerin, die unser Rosmarin-Haarwasser auf Tiktok bekannt gemacht hat. Daraufhin ist die Nachfrage derart explodiert, dass unsere Rosmarinproduktion in Spanien damit nicht Schritt halten konnte. Jetzt sind wir mit einem Landwirt in Frankreich eine Partnerschaft eingegangen, der seine Anbaufläche von 2 auf 100 Hektaren vergrössern wird. Dieser Rosmarin steht uns aber erst in der nächsten Saison zur Verfügung. Was ich sagen will: Es gibt eine natürliche Beschränkung für unser Wachstum. Die Rohstoffe müssen zuerst angepflanzt werden.

Kosmetik macht 80 Prozent des Umsatzes von Weleda aus. Der Rest kommt von der defizitären Arzneimittelsparte, dem Sorgenkind im Unternehmen. Was ist dort Ihr Rezept?

Ganz klar, hier brauchen wir eine Neuausrichtung, und da sind wir bereits dran. Wir werden die Kosten in ein anderes Verhältnis zum Umsatz bringen. Wir wollen aber gleichzeitig am Wachstum arbeiten, die anthroposophischen Arzneimittel aus ihrer Nische rausholen, um sie mehr Menschen zugänglich zu machen – auch Ärztinnen und Ärzten ausserhalb der anthroposophischen Medizin.

Das Problem ist doch, dass es viel zu viele Produkte in allen möglichen Darreichungsformen gibt. Früher waren es über 2000.

So viele sind es längst nicht mehr. Wir haben das Portfolio bereits auf etwa 800 Produkte reduziert.

Es gab einst die Idee, das Sortiment radikal zusammenzustreichen auf jene vielleicht hundert Produkte, die bei den anthroposophischen Ärzten 80 Prozent aller Verschreibungen ausmachen. Holen Sie diesen Vorschlag wieder aus der Schublade?

Nein, wir nehmen die heutige Basis als gesetzt. Man kann das Sortiment nicht aus betriebswirtschaftlichen Gründen beliebig reduzieren, weil ein breites Sortiment für die anthroposophische Medizin unerlässlich ist. Dieses zu erhalten, ist der gesellschaftliche Auftrag von Weleda.

Aber kann der Arzneimittelbereich dann je profitabel werden?

Ja, selbstverständlich. Unser Ziel ist es, perspektivisch das Arzneimittelgeschäft innerhalb der nächsten drei Jahre in die Gewinnzone zu führen.

War es denn in der Vergangenheit je profitabel?

Das Thema begleitet uns tatsächlich schon länger. Der Kosmetikbereich hat die Arzneimittelsparte quersubventioniert. Aber noch einmal: Wir werden das Arzneimittelgeschäft profitabel aufstellen.

Wie sind Ihre Erfahrungen mit der anthroposophischen Medizin?

Die anthroposophische Medizin ist aus meiner Sicht eine sehr moderne Medizin, denn sie behandelt in ihren Therapien ganzheitlich, stellt nicht einzig auf das Körperliche ab, sondern berücksichtigt auch die Seele. Ich persönlich habe sehr gute Erfahrungen mit dem Weleda-Arzneimittel Bryophyllum gemacht. Das Arzneimittel wurde ursprünglich bei Frühwehen eingesetzt und wird heute auch für einen besseren Schlaf eingenommen. Und es funktioniert bei mir tatsächlich. Die Evidenz, dass es wirkt, mag nur n=1 sein, aber ich schlafe damit jetzt komplett durch.

Die Wirksamkeit der anthroposophischen Medizin ist höchst umstritten. In Frankreich wird Alternativmedizin deshalb nicht mehr vergütet, was mit ein Grund für die Schliessung der Weleda-Produktion in dem Land war. Auch der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach denkt über Einschränkungen der Vergütung nach.

Bei diesem Thema sind viele Missverständnisse im Umlauf, in aller Kürze deshalb kurz zur Faktenlage: Die Krankenkassen sind bei dem von Herrn Minister Lauterbach genannten Bereich überhaupt nicht verpflichtet, etwas zu erstatten. Es ist eine freiwillige Leistung, um sich gegenüber anderen Kassen im Wettbewerb zu profilieren. Der Betrag, um den es hier geht, macht vom gesamten Budget der gesetzlichen Krankenkassen 0,02 Prozent aus. Laut Schätzungen des Ministers waren das 20 bis 50 Millionen Euro – von 300 Milliarden, die insgesamt erstattet werden. Damit kann Herr Lauterbach das deutsche Gesundheitssystem nicht sanieren. Es ist ein Nebenschauplatz und für Weleda wirtschaftlich ohnehin nicht relevant. Zudem wären rezeptpflichtige Leistungen und Leistungen für Kinder unter zwölf Jahren von dem angedachten Vorhaben gar nicht betroffen.

Aber der Trend läuft gegen Weleda.

Ganz im Gegenteil: Denn die Zahlen sprechen eine andere Sprache: Die jüngste Allensbach-Studie hat gezeigt, dass zwei Drittel homöopathische und anthroposophische Arzneimittel als Ergänzung zu schulmedizinischen Arzneimitteln befürworten. Für uns ist es auch eine Frage der Haltung: Wir stehen für Therapievielfalt und -freiheit, im Sinne der Patientinnen und Patienten.

Die Dividenden von Weleda waren jeweils eine wichtige Einnahmequelle für die Anthroposophische Gesellschaft, den Mehrheitsaktionär zusammen mit der Klinik Arlesheim. Sind die Eigentümer bereit, auf Ausschüttungen zu verzichten, um die verschiedenen Wachstumsinitiativen zu finanzieren?

Es ist keine Frage von Wachstumsinitiative oder Dividende, so deutlich kann ich das heute formulieren.

Ihr vorheriger Arbeitgeber, die Parfümeriekette Douglas, soll demnächst an die Börse kommen. Warum sind Sie dort eigentlich im Herbst 2022 als Chefin zurückgetreten?

Wir hatten die Multikrisen rund um Corona, Ukraine-Krieg und Inflation gut gemeistert, dann gab es unterschiedliche Auffassungen, wie man das Geschäft nach vorne führt. Ich freue mich, wenn es bei Douglas gut läuft, und wünsche dem Unternehmen für den Börsengang viel Erfolg, es sind ja auch Früchte der Arbeit, die wir als Team geleistet haben.

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