Was in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft noch vorgeht

100 Jahre Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft?

„Wenn die Menschen dem Genius eines Zeitalters absagen, dann tritt an sie heran der Dämon dieses Zeitalters.“ Rudolf Steiner[1]

In Bezug auf die Umlaufszeiten geistiger Impulse spricht Rudolf Steiner eigentlich von einem Zeitraum von 3 x 33, also 99 Jahren, wonach diese erneuert bzw. wieder aufgegriffen werden können.[2] Geschieht dies nicht, so könne zumindest für sehr lange Zeit daran nicht mehr angeschlossen werden mit der Folge, dass diese Impulse den Widersacherkräften überlassen werden müssen. Die Möglichkeit einer Erneuerung kann nun nichts anderes bedeuten, als dass zu den entsprechenden Zeiten seitens der geistigen Welt die entsprechenden Voraussetzungen zu einer Erneuerung bestehen. Es liegt also keineswegs in der Beliebigkeit der Menschen, wann dies geschehen kann. Doch nur wenn diese geistigen Impulse von Menschen erkannt und aktiv ergriffen werden, nur dann kann die Erneuerung Realität werden. Es hängt also alles davon ab, ob für ein mögliches Wiederergreifen ein realistisches Bewusstsein und ein notwendiger Wille vorhanden ist.

Damit ergeben sich als Voraussetzung:

  • Eine realistische/wahre Erkenntnis des ursprünglichen Impulses.
  • Eine zeitlich richtige Zuordnung, da nur zu bestimmten Zeiten die Erneuerungsmöglichkeit besteht.
  • Eine realistische Erkenntnis der damaligen und heutigen Kräfte, die einer möglichen Ergreifung entgegenstehen.

Nun gehört es zu den Besonderheiten der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, dass ausgerechnet an unrichtigen und unwahren Bildern der eigenen Geschichte – insbesondere um das Geschehen und die Tatsachen an und nach der Weihnachtstagung – auch dann festgehalten wird, wenn die Realität für jedermann erkennbar geworden ist. Nachfolgend dazu einige Beispiele, auf die in späteren Ausarbeitungen konkret eingegangen werden kann:

  • Der Grundstein-Spruch ist zu differenzieren von dem Grundstein selber.
  • Dieser wurde nicht von Rudolf Steiner „in die Herzen der Mitglieder“ gelegt!
  • Die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft wurde nicht an der Weihnachtstagung, sondern bereits 1913 gegründet.

Weitergehend ergibt sich zwischen dem, was heute zumeist unter dem Impuls der Weihnachtstagung verstanden wird eine Differenz zu dem, was Rudolf Steiner mit dieser Formulierung zum Ausdruck brachte. Und wenn auch heute vom „100-jährigen Fortwirken der Weihnachtstagung“[3] gesprochen wird, so ist das Hypothetische des gesamten Weihnachtstagungs-Geschehens und der Neugründung der Gesellschaft, worauf R. Steiner immer wieder hingewiesen hatte, offensichtlich aus dem Blick geraten.

Mit diesen wenigen Sätzen ist ein ganzes Bündel von Themen angesprochen, die nur nach und nach angeschaut werden können, um Klarheit zu bekommen für die nun bevorstehende säkulare Wiederkehr der Weihnachtstagung. Erst durch die Beantwortung bzw. Klärung offener Fragen kann ein realistisches Bild entstehen und damit die Voraussetzung dafür, an eine Möglichkeit zur Erneuerung der damaligen Impulse auch nur zu denken. Ob, inwieweit und woran wir heute noch anknüpfen können, muss sich ebenfalls aus der Klärung ergeben.

Auch wenn nachfolgend vornehmlich die Gesellschaftsgründungen in den Blick genommen werden, ist die Bedeutung keineswegs auf die heutigen Gesellschaftsverhältnisse begrenzt, im Gegenteil, sind doch gerade die mit der Weihnachtstagung verbundenen Absichten von Bedeutung für die ganze Menschheitsentwicklung.

99 oder 100 Jahre?

Dieser Frage soll hier nicht nachgegangen werden, dies ist anderweitig bereits ausführlich geschehen und diskutiert worden, darauf sei hier lediglich verwiesen.[4] Ich gehe davon aus, dass es nicht falsch sein kann, bereits 99 Jahre zu berücksichtigen und es ist sicher ein gewisser Spielraum gegeben um diesen Zeitpunkt. Man kann aber auch die Frage haben, ob es sich bei den üblich gewordenen 100 Jahren um einen Trick der Widersacher handelt, damit eine Verspätung eintritt. Während zum 100. Geburtstag Friedrich Schillers 1859 ein Schiller-Jahr begangen wurde, hat Rudolf Steiner genau dieses als das Todesjahr des eigentlichen Idealismus bezeichnet.[5]

So kann diese Frage offen bleiben – mit der Möglichkeit, eine Verspätung zu vermeiden.

Der richtige Zeitpunkt?

Begriffsklärung

Nun ist nicht nur die säkulare Wiederkehr der Weihnachtstagung in den Blick zu nehmen, sondern auch die damit verbundene Neugründung der Gesellschaft. Von der Gesellschaftsleitung wird nach wie vor öffentlich und offiziell vertreten, dass die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft an der Weihnachtstagung von Rudolf Steiner gegründet worden sei.[6] Als 2019 zu den Kolloquien zur Klärung der Konstitutionsfrage eingeladen wurde, erfolgte dies „im Hinblick auf das Ereignis ‹100 Jahre Gründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft› 2023/24“.[7] Aber genau in dieser Formulierung wird schon die hier angesprochene Problematik deutlich, denn sowohl die Gesellschaftsleitung als auch die Mitgliedschaft glaubte eben seit 1925, dass es sich bei der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ um die an der Weihnachtstagung 1923/24 neugegründete Gesellschaft handeln würde, man also in der AAG Mitglied der Weihnachtstagungs-Gesellschaft sei. Tatsächlich aber handelt es sich bei der AAG um den am 8. Febr. 1925 in „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ umbenannten „Verein des Goetheanum freie Hochschule für Geisteswissenschaft“, den sogenannten Bauverein. Dieser ging zurück auf die Gründung des „Johannesbau-Vereins“ in Basel im Jahr 1913 und hatte seinen eigentlichen Ursprung in der Gründung eines gleichnamigen Vereins in München im Jahr 1910.[8] Davon war (und ist) streng zu unterscheiden die an der Weihnachtstagung neugegründete Gesellschaft namens „Anthroposophische Gesellschaft“.[9]

Obwohl bereits an der Generalversammlung 1963 durch engagierte Mitglieder die wirklichen Tatsachen vorgebracht wurden und damit im Gesellschaftszusammenhang bekannt geworden waren, hat sich der Glaube, die AAG sei mit der Weihnachtstagungs-Gesellschaft identisch, bis heute gehalten. Anstatt 1963 in einen notwendigen Erkenntnisprozess einzutreten, wurde die weitere Diskussion verhindert, indem die damaligen Protagonisten rechtzeitig vor der nächsten Generalversammlung aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Seitens der Leitung wurde bis Ende der 90er Jahre geleugnet, dass es überhaupt ein Problem mit der Konstitution gibt.

Auf die Fragestellungen zur Konstitution wird demnächst detaillierter eingegangen werden können, wenn ein zumindest vorläufiges Ergebnis aus der 2-jährigen Kolloquiums-Arbeit zur Konstitution der AAG veröffentlicht werden wird.

Nachfolgend wird nun unterschieden:

  • Die „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“, bei der es sich um den am 8. Febr. 1925 umbenannten „Johannesbau-Verein“ handelt. Dieser Verein ist mit der heutigen AAG identisch, in der viele von uns Mitglied sind.
  • Die an der Weihnachtstagung 1923/24 neugegründete „Anthroposophische Gesellschaft“, die zur Unterscheidung hier auch Weihnachtstagungs-Gesellschaft genannt wird.

Wann wurde die „Anthroposophische Gesellschaft“ gegründet?

Rudolf Steiner erinnert nach der Weihnachtstagung an die Gründung der „Anthroposophischen Gesellschaft“ und bezieht sich dabei explizit auf den Beginn der anthroposophischen Arbeit im Jahr 1902 (!) im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft:

„Als aus dem Schosse der Theosophischen Gesellschaft heraus im Beginne des Jahrhunderts in Berlin die Anthroposophische Gesellschaft begründet worden ist, …“[10] und „Die Anthroposophische Gesellschaft hat ja in sehr, sehr kleiner Form begonnen, und diese kleine Form war dazumal im Beginne des Jahrhunderts in der Theosophischen Gesellschaft enthalten.“[11]

Allein aus diesen Bemerkungen wird die Kontinuität deutlich, die er dem gesellschaftlichen Verhältnis beimisst, abseits formaler oder juristischer Gegebenheiten: Sowohl die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1912 als auch die Neugründung an der Weihnachtstagung 1923/24 stehen in diesem Kontinuitäts-Strom seit der Gründung der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft 1902 und der Übernahme der Aufgabe des Generalsekretärs durch Rudolf Steiner. Ganz unabhängig von den äusseren Formen wurden diese Gesellschaften nicht unterschieden – in seinem Verständnis ist es immer die gleiche Gesellschaft! Die Gründung 1912 erfolgte, weil sich die Bedingungen in der Theosophischen Gesellschaft geändert hatten:

„Und wären Gesinnung, Haltung und Wirken der [Theosophischen] Gesellschaft so geblieben, wie sie damals waren, mein und meiner Freunde Austritt hätte nie zu erfolgen gebraucht. Es hätte nur innerhalb der Theosophischen Gesellschaft die besondere Abteilung ‹Anthroposophische Gesellschaft› offiziell gebildet werden können.“[12]

Etwas anders stellte sich die Situation 1923 dar: Da sich die Gesellschaft nicht so entwickelt hatte, wie 1912 erhofft und die versuchte Konsolidierung im Jahr 1923 sich als nicht möglich erwiesen hatte, war die Neugründung und insbesondere die Übernahme der Gesellschafts-Leitung Rudolf Steiners letzter Versuch, um doch noch zu erreichen, was von Anfang intendiert war:

„Ich will auf die Kraft bauen, die es mir ermöglicht, ‹Geistesschüler› auf die Bahn der Entwickelung zu bringen. Das wird meine Inaugurationstat allein bedeuten müssen“.[13]

„Eine geistige Bewegung in Europa ins Leben zu rufen“ und zwar „eine solche Bewegung, die an den abendländischen Okkultismus und ausschließlich an diesen anknüpft und diesen fortentwickelt.“[14]

Der Menschheit die notwendige Verbindung zu ihren geistigen Ursprüngen sowie zeitgenmässe neue Mysterien zu ermöglichen: An diesen Intentionen Rudolf Steiners hatte sich auch 1923/24 nichts geändert. Wie er schon 1905 ausführte ging es darum, dass spirituelle Vereinigungen auf bruderschaftlicher (menschlicher) Basis entstehen:

„Vereinigung bedeutet die Möglichkeit, dass ein höheres Wesen durch die vereinigten Glieder sich ausdrückt. Das ist ein allgemeines Prinzip in allem Leben. Fünf Menschen, die zusammen sind, harmonisch miteinander denken und fühlen, sind … nicht bloß die Summe aus den fünf. … Eine neue, höhere Wesenheit ist mitten unter den fünfen, ja schon unter zweien oder dreien. ‹Wo zwei oder drei in meinem Namen vereinigt sind, da bin ich mitten unter ihnen.› Es ist nicht der eine und der andere und der dritte, sondern etwas ganz Neues, was durch die Vereinigung entsteht. … So sind die menschlichen Vereinigungen die geheimnisvollen Stätten, in welche sich höhere geistige Wesenheiten herniedersenken, um durch die einzelnen Menschen zu wirken, wie die Seele durch die Glieder des Körpers wirkt. … Zauberer sind die Menschen, die in der Bruderschaft zusammen wirken, weil sie höhere Wesen in ihren Kreis ziehen. … Der Zukunft obliegt es, wieder Bruderschaften zu begründen, und zwar aus dem Geistigen, aus den höchsten Idealen der Seele heraus.“[15]

So setzte er 1923 „letzte Hoffnung“[16] darauf, diese Intentionen nun nach der Weihnachtstagung im gesellschaftlichen Zusammenhang „durchführen“[17]zu können.

Verpasste Möglichkeiten?

2001/2002 – die säkulare Wiederkehr der Gründung der „Anthroposophischen Gesellschaft“

Geht man wie Rudolf Steiner davon aus, dass die eigentliche Gründung der „Anthroposophischen Gesellschaft“ bereits im Jahr 1902 stattfand, wären im 33-Jahres-Rhythmus (1935, 1968 und 2001) Erneuerungsmöglichkeiten gegeben gewesen. Stattdessen finden sich in diesen Jahren Kulminationspunkte der grossen Gesellschaftskonflikte:

  • Im Jahr 1935 kulminierte der bereits unmittelbar nach Rudolf Steiners Tod ausgebrochene Gesellschaftskonflikt in den Ausschlüssen von Ita Wegman und Elisabeth Vreede aus dem Vorstand, den Ausschlüssen einiger Einzelpersonen sowie der gesamten holländischen und englischen Landesgesellschaft aus der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Darüber hinaus wurden Statuten-Änderungen beschlossen, „um die Statuten den Prinzipien weitgehend anzugleichen“[18], was allerdings nicht den Tatsachen entsprach: So wurde insbesondere die Position des 1. Vorsitzenden gegenüber den anderen Vorständen gestärkt[19], diesem das alleinige Recht zur Aufnahme von Mitgliedern übertragen und insbesondere für Vorstandserweiterungen das Kooptions-Prinzip eingeführt. Von all dem konnte in der Konstitution der Weihnachtstagungs-Gesellschaft nicht die Rede sein.
  • Im Jahr 1968 beschloss der Vorstand, ab sofort die von der Nachlassverwaltung herausgegebenen Bücher (insbesondere Schriften und Vorträge Rudolf Steiners) nicht weiter zu verleugnen und diese auch im Goetheanum zu verkaufen. Damit wurde ein 20-jähriger Boykott der Nachlassverwaltung aufgehoben, ohne dass jedoch der Nachlassstreit angemessen aufgearbeitet worden wäre. Zudem wurde ein neuer jahrelanger Konflikt erzeugt, da Herbert Witzenmann den Mehrheitsbeschluss nicht mittragen wollte und er seine Position öffentlich gegenüber der Mitgliedschaft vertrat. Dies führte erneut zu Spannungen und Spaltungen in der Gesellschaft. Näheres hierzu siehe Fussnote.[20]
  • Im Jahr 2001 – nach fast 40 Jahren – konnte die Existenz des Konstitutionsproblems von Vorstandsseite nicht weiter geleugnet werden. Davon zeugte die Veröffentlichung des sogenannten „Mannheimer Ergebnisses“[21] als Zwischenresultat einer Arbeitsgruppe, die aus Funktionären sowie Mitgliedern bestand, die sich in der Konstitutionsfrage engagiert hatten. Allerdings wurden alle Hoffnungen auf eine gemeinsame weitere Vorgehensweise durch den Alleingang des Vorstandes zunichte gemacht, als dieser ohne jede Absprache und entgegen dem vereinbarten Vorgehen einseitig die weitere gemeinsame Arbeit verunmöglichte und einen eigenen Weg zu Lösung des Problems einschlug.[22] Dieser führte zu weiteren Konflikten und mehrjährigen gerichtlichen Auseinandersetzungen. Eine wirkliche Lösung des Konstitutions-Problems wurde jedoch nicht erreicht. Letztlich hat der Vorstand durch unkluges Agieren die Streitigkeiten provoziert, die Gerichtsprozesse vorhersehbar verloren und anschliessend mit einer weiteren Unwahrheit behauptet, das Gericht habe festgestellt, aufgrund einer konkludenten Fusion sei die AAG mit der WTG identisch.[23] Letztere Ansicht wird auch heute noch vertreten – tatsachenwidrig wider besseren Wissens.[24]

Eine Aufarbeitung all dieser Konflikte und Gesellschaftskatastrophen steht nach wie vor aus. Insbesondere die (negative) Bedeutung des Rekonstitutionsversuches von 2001/2002 ist in seiner Tragweite bisher zuallermeist kaum realisiert worden.

Allein schon die Bedeutung der Tatsache, dass die Möglichkeit vollkommen verpasst wurde, bewusst und aktiv an die ursprünglichen geistigen Impulse zur Gesellschaftsgründung anzuknüpfen, dürfte schwerwiegend sein: Wurden diese damit für lange Zeit endgültig vertan? Konnte damit der „Dämon dieses Zeitalters“ Herrschaft über die weitere Entwicklung erlangen? Vergleichbar mit dem, was Rudolf Steiner zu dem Nichtergreifen der liberalen Ideen im 19. Jahrhundert ausführte? Denn nachher ist nichts mehr zu erreichen auf demjenigen Wege, auf dem das in dem genannten Zeitraume erreichbar gewesen wäre. Nachher ist nur durch völliges Erwachen im geisteswissenschaftlichen Erleben etwas zu erreichen. So hängen die Dinge historisch in der neueren Geschichte zusammen.[25] Noch deutlicher kommt das an anderer Stelle zum Ausdruck:

„Wenn so etwas [wie die Spiritualisierung der Menschheit] – da die Menschheit in der neueren Zeit auf Freiheit gestellt werden muss – aus dem freien Menschenwillen heraus unterlassen wird, so sinkt die Waagschale auf die andere Seite hinunter. Dann entlädt sich das, was auf spirituellem Wege hätte erreicht werden können, durch das Blut. Dann entlädt sich das auf eine, ich möchte sagen, überphysische Weise. Es ist nur das Gleichstellen der Waage, was wir in unserer katastrophalen Zeit erleben. Die Menschheit, die zurückgewiesen hat die Spiritualisierung, muss in die Spiritualisierung hineingezwungen werden. Das kann durch eine physische Katastrophe [damals der erste Weltkrieg] geschehen.“[26]

Lassen wir die weitere Beurteilung dieser Ereignisse und die heutige Bedeutung zunächst offen.

Die säkulare Wiederkehr des Bauimpulses.

Einen genauen ursprünglichen Zeitpunkt für den Bauimpuls zu finden ist nicht einfach. Da der Bau zunächst in München entstehen sollte, wurde dort auch der erste Johannesbau-Verein im Jahr 1910 gegründet. Im Oktober 1912 war Rudolf Steiner erstmals in Dornach und erkundete die Umgebung des ihm angebotenen Geländes. Die endgültige Entscheidung für Dornach wurde 1913 gefällt, die Grundsteinlegung fand am 20. September 1913 statt und 2 Tage später wurde der Dornacher „Johannesbau-Verein“ gegründet. Innerhalb dieses Zeitraumes liegt die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft in Köln 1912. Insofern bietet sich dieses Jahr für eine weitere Untersuchung an. Im 33er-Rhythmus ergibt sich die Folge: 1912 – 1945 – 1978 – 2011/12 (Ergänzungen für die nachfolgend angeführten Ereignisse sind willkommen).

  • Im Jahr 1945 begann die Eskalation des Nachlassstreites. Marie Steiner gab die Übertragung ihrer Rechte an den 2 Jahre zuvor gegründeten Nachlassverein bekannt. „Eine Bombe schlägt ein“[27], so überschreibt Lorenzo Ravagli das entsprechende Kapitel. Die damit beginnenden und vor allem eskalierenden Auseinandersetzungen prägten Jahrzehnte der Gesellschaftsgeschichte mit Auswirkungen, die auch heute noch zu spüren sind. Eine Aufarbeitung ist nicht erfolgt, die einzige mir bekannte einigermassen umfassende Darstellung findet sich in dem zitierten Werk von Lorenzo Ravagli.
  • 1978: Beginnende Kulmination des Interesses insbesondere der Jugend an der Anthroposophie. Blüte der Jugendsektion, der Seminartätigkeiten und der Ausbildungsstätten – bis in die 80er/90er Jahre.
  • 2011: An die Stelle einer Erinnerung an die ursprünglichen Impulse trat wieder ein Gesellschaftskonflikt. Aufgrund eines Abwahlantrages, der bereits Monate zuvor bekannt war, hatte der Vorstand beschlossen, diesem zuvor zu kommen und die Amtszeit der Vorstände zukünftig auf 7 Jahre zu begrenzen. Insbesondere von Paul Mackay und Bodo von Plato wurden hehre Ziele und Absichten vorgebracht. So sollten „… die Mitglieder verstärkt in die Verantwortung einbezogen werden“ und „Es geht darum, dass wir ein neues soziales Feld entwickeln. Damit ist gemeint, dass die Mitglieder mehr einbezogen werden.“ sowie „Gern möchten wir die Zusammenarbeit der Mitglieder mit den Verantwortungsträgern verstärken, sodass die Gesellschaft zum Partner des Vorstands wird und sich nicht als Gegenüber versteht“, erwiesen sich schon durch das nachfolgende Verhalten der Leitung als leere Versprechen. Als geradezu taktisches Lügengebäude offenbarten sich diese durch Paul Mackays öffentliches Eingeständnis, als er zur Begründung seines Antrages zur Aufhebung dieser Amtszeitbeschränkung vorbrachte, dass deren Einführung 2011 lediglich eine (mögliche Über-)Reaktion auf den damaligen Abwahlantrag gewesen sei! Des Weiteren führte er aus, dass schon regelmässig eine Besinnung auf die Vorstandstätigkeit erfolgen sollte, allerdings ohne die Mitgliedschaft einzubeziehen, denn nur im Kreis der Goetheanum-Leitung und der Konferenz der Generalsekretäre sei eine Beurteilung der Vorstandstätigkeit möglich![28]

Die säkulare Wiederkehr der Weihnachtstagung 2022/23

Mit Blick auf die Weihnachtstagung ergibt sich die Jahresfolge: 1923 – 1956 – 1989 – 2022/23.

Die Jahre 1956 und 1989 sind offensichtlich keine markanten Krisenjahre im gesellschaftlichen Zusammenhang. Der Fall der Mauer 1989, die damit verbundene Auflösung des sozialistischen Experimentes im Osten traf die anthroposophische Gemeinschaft unvorbereitet. Die Versuche freier Initiativen, die allesamt ihren Ursprung nicht im gesellschaftlichen Zusammenhang hatten, Elemente der Dreigliederung in die Neugestaltung der sich auflösenden Staatsverhältnisse einzubringen, blieben letztlich erfolglos und so konnten sich die westlichen Hegemonieambitionen durchsetzen. Es ist offensichtlich, dass heute, ca. 33 Jahre später, wieder eine Zuspitzung stattfindet – diesmal weltweit. Insbesondere mit Blick auf einige aktuelle Verlautbarungen der medizinischen und sozialwissenschaftlichen Sektion[29] drängt sich die Frage auf, ob die Leitung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Hochschule die aktuelle Weltlage realistisch einschätzt.

Noch steht das Ereignis 99 Jahre Weihnachtstagung vor uns. Sind damit noch alle Möglichkeiten offen?

Nun wird es darauf ankommen, zunächst die tatsächlichen Impulse und Absichten, die mit der Weihnachtstagung und der Neugründung von Gesellschaft und Hochschule verbunden waren, herauszuarbeiten.

Fazit

„Die Weisheit liegt nur in der Wahrheit“
Motto der Anthroposophischen Gesellschaft

Es ist offensichtlich ein Symptom im Zusammenhang der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, sich an die ursprünglichen Impulse nicht erinnern zu wollen. Stattdessen kulminierten ausgerechnet an etlichen entscheidenden Zeitpunkten des 33-Jahresrhythmus die Gesellschaftskonflikte mit den damit verbundenen Ausgrenzungen und Spaltungen, wodurch den Widersachermächten für ihr Wirken Tür und Tor geöffnet wurde. Man kann sich fragen, ob nach all den hier beschriebenen Gegebenheiten nun mit der säkularen Wiederkehr der Weihnachtstagung – dem letzten Versuch Rudolf Steiners, seine Aufgabe, seine Mission für die Menschheitsentwicklung doch noch erfüllen zu können – auch für uns die allerletzte Möglichkeit gegeben sein wird, sich die ursprünglichen Impulse zu vergegenwärtigen und zu ergreifen, was noch ergriffen werden kann. Ohne eine zumindest anfängliche Aufarbeitung der Gesellschaftsgeschichte – die ja gleichzeitig die Geschichte der Entwicklung der Anthroposophie ist – wird das jedoch kaum möglich sein.

Die Erinnerung an die Weihnachtstagung und die Besinnung auf die damit verbundenen Impulse und Absichten werden nur dann fruchtbar werden können, „wenn auf Grundlage der Erkenntnis der Mangelhaftigkeiten … also der konkreteren Erkenntnis desjenigen, was mangelhaft ist, zu einer Gestaltung des Positiven geschritten wird.“[30] (Rudolf Steiner im Zusammenhang mit dem Konsolidierungsversuch der Gesellschaft am 26. Febr. 1923).

Das Mysteriengeschehen der Weihnachtstagung war keineswegs ein isoliertes Ereignis für die Anthroposophische Gesellschaft, es war ein Menschheitsereignis, der letzte Versuch, aus den „Zeichen der Zeit“ eine spirituelle Vereinigung von Menschen zu bilden, mit der eine Erneuerung der Mysterien hätte möglich werden können, „für den Fortschritt der Menschenseelen, für den Fortschritt der Welt.“[31]

Jeder, der sich mit Rudolf Steiner und der Anthroposophie verbunden erlebt, kann sich hier angesprochen fühlen, initiativ zu werden, auch jenseits des gesellschaftlichen Zusammenhangs.

Thomas Heck, 6. Jan. 2022


[1] GA 225, S. 166.

[2] Hierzu insbesondere GA 180, Vorträge 1-4.

[3] Justus Wittich, AWW 12/2021, S. 3.

[4] Eine ausführliche Literaturliste in Jens Göken, „Das Gesetz der 33 Jahre“, Gegenwart Nr. 2 / 2011. Frank Spaan, „Über den 33 Jahres-Rhythmus“, Privat-Druck, Bezug: postfs@protonmail.com.

[5] GA 222, 1989, S. 18, 11. März 1923.

[6] Siehe z.B. Internetseite www.goetheanum.org und  rosa Info-Heft für neue Mitglieder.

[7] AWW 9/19, S. 3.

[8] Der „Johannesbau“ sollte ursprünglich in München entstehen. Dem standen jedoch verschiedene Widerstände entgegen, sodass diese Absicht 1913 aufgegeben wurde.

[9] Ohne dem Ergebnis der Kolloquiumsarbeit vorgreifen zu wollen kann aber gesagt werden, dass in dieser Frage bei den Teilnehmern ein breiter Konsens herrscht.

[10] GA 238, S. 16, 5. Sept. 1924.

[11] GA 260a, S. 94, 18. Jan. 1924.

[12] GA 28, 1982, S. 309.

[13] Brief vom 16. Aug. 1902 an Wilhelm Hübbe-Schleiden, hier zitiert nach GA 264, S. 19.

[14] Aus dem Gespräch zwischen Marie von Sivers und Rudolf Steiner am 17. Nov. 1901, GA 254, 1986, S. 48.

[15] GA 54, 1983, S. 192f. und GA 265, 1987, S. 122.

[16] GA 259, 1991, S. 865. Aus einem Brief von Rudolf Steiner an Marie Steiner

[17] GA 260a, 1987, S. 183.

[18] Nachrichtenblatt Nr. 11/12, 17. März 1935.

[19] Der 1. Vorsitzende wurde quasi allmächtig und bestimmte die Vollmachten der übrigen Vorstandsmitglieder – und konnte sie diesen auch entziehen, siehe §13 der damaligen Statuten. Nachrichtenblatt 11/12, 17. März 1935.

[20] Lorenzo Ravagli, Selbsterkenntnis in der Geschichte, Band 1, Glomer.com, o.J.

[21] Nachrichtenblatt Nr. 20, 20. Mail 2001.

[22] Justus Wittich, „Konstitutionsgruppe als wichtiger Wegbereiter“, Nachrichtenblatt 42/2002.

[23] „Mythen der Konstitutions-Frage: ‚Die Fusion durch konkludentes Handeln‘“, https://wtg-99.com/mythos-fusion.

[24] Justus Wittich, „Stärkung der Hochschule in den Statuten“ in AWW 1-2/2014.

[25] GA 185, 1982, S. 95.

[26] 174a, 1985, S. 230f.

[27] Lorenzo Ravagli, Selbsterkenntnis in der Geschichte, Band 1, Glomer.com, o.J.

[28] Nur im Internet: https://www.goetheanum.org/fileadmin/kommunikation/GV_2019_Antraege.pdf (letzter Zugriff: 28.12.2021).

[29] Gemeint sind hier die diversen Positionierungen zu den Corona-Impfungen und die Äusserung G. Häfners, Deutschland habe unbewusst die Dreigliederung gewählt.“ („Das Goetheanum“, 15. Okt. 2021).

[30] GA 259, S. 377.

[31] Zitate aus dem Eröffnungsvortrag der Weihnachtstagung 24. Dez. 1923, GA 260.

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