Für Rudolf Steiner bestand mit dem Beginn des öffentlichen Wirkens für die Anthroposophie und die Ermöglichung neuer christlicher Mysterien von Anfang an die Notwendigkeit, dafür einen geeigneten Gesellschaftszusammenhang zur Verfügung zu haben. Die alten, auf autoritativen Formen und strengen Regeln beruhenden Sozial-Zusammenhänge, in denen das Mysteriengeschehen stattfand, kamen für den zur Freiheit strebenden Menschen nicht mehr in Frage, sie waren nicht mehr zeitgemäss. „Wir haben kein Recht, Autorität zu erzwingen: Erste Gemeinschaft, die Organisation mit Freiheit anstrebt.“[1] so Rudolf Steiner im Jahr 1906 an der Generalversammlung der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft. Nachdem ein Wirken im Rahmen dieser Gesellschaft nicht mehr möglich war, erfolgte die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1913 in Köln. Im Gegensatz zur Theosophischen Gesellschaft übernahm Rudolf Steiner in dieser Gesellschaft keine Leitungsaufgaben, worauf er nach der Weihnachtstagung hinwies:
„Als die Anthroposophische Gesellschaft 1913 begründet worden ist, hat es sich darum gehandelt, einmal wirklich aus einem okkulten Grundimpuls heraus die Frage zu stellen: Wird diese Anthroposophische Gesellschaft sich weiter entwickeln durch die Kraft, die sie bis dahin in ihren Mitgliedern gewonnen hatte? Und das konnte nur dadurch auserprobt werden, dass ich selber, der ich ja bis dahin als Generalsekretär die Leitung der Deutschen Sektion hatte, als welche die anthroposophische Bewegung in der Theosophischen Gesellschaft drinnen war, dass ich selber dazumal nicht weiter die Leitung der Anthroposophischen Gesellschaft in die Hand nahm, sondern zusehen wollte, wie diese Anthroposophische Gesellschaft sich nun aus ihrer eigenen Kraft entwickelt.“[2]
Die Mitglieder konnten die Impulse nicht ergreifen und nach dem vergeblichen Bemühen um eine Konsolidierung der Gesellschaft im Jahr 1923, hatte Rudolf Steiner erwogen, sich ganz von der Anthroposophischen Gesellschaft zurückzuziehen.[3] Erst kurz vor der Weihnachtstagung fällt der endgültige Entschluss zur Neubegründung, „nach schwerem inneren Überwinden“[4], ein letzter Versuch, so schreibt Rudolf Steiner am 1. Dezember 1923 an Marie Steiner: „Denn ich setze für die Gesellschaft gewissermaßen letzte Hoffnungen auf die Weihnachtszusammenkunft.“[5] Es handelte sich um einen frei gefassten Entschluss von Rudolf Steiner, die Initiative zu der Neugründung zu ergreifen und auch mit der Aufgabe des 1. Vorsitzenden die Leitung der Gesellschaft wieder zu übernehmen. Er allein entwickelt die Statuten, bestimmt die Struktur und die Gestalt dieser Neugründung. Die Einsetzung des Vorstandes erfolgt einerseits durch ihn, er bezeichnet dies selbst als „etwas aristokratisch gehandhabte Einsetzung des Vorstandes.“[6] Die tatsächliche Einsetzung des Vorstandes und die Entstehung der Gesellschaft ist aber von der Zustimmung der Mitglieder abhängig. Die Initiative geht vollständig von Rudolf Steiner aus, die freie Tat eines Menschen einerseits, gleichzeitig ein esoterischer Vorgang und eine esoterische Handlung eines Eingeweihten andererseits, den Impulsen der geistigen Welt folgend, um wieder eine Verbindung zwischen der geistigen Welt und den Menschen zu ermöglichen. Ein eigentlich in sich widersprüchliches, von der Zeit gefordertes völlig neues Unterfangen: Eine Synthese aus der streng hierarchischen Ordnung der geistigen Welt und den Anforderungen einer durch die Mitglieder selbst bestimmten Organisation, die dem sich zur Freiheit entwickelnden Menschen Rechnung trägt. Diese Synthese kann nicht ausschliesslich auf einer bestehenden Rechtsordnung gründen, dazu ist ein freies Vertrauensverhältnis notwendig, dass das jeweilige Überhandnehmen des aristokratischen oder des demokratischen Prinzips ausschliesst. Rudolf Steiner am 25. Dezember 1923 während der Statutenbesprechung:
„Also ich meine, in der Praxis wird kein so großer Unterschied sein zwischen Demokratie und Aristokratie. Wir könnten ja in den nächsten Tagen einmal die Probe aufs Exempel machen und könnten fragen, ob der Vorstand, den ich vorgeschlagen habe, gewählt oder nicht gewählt wird. Dann hätten wir ja auch eine demokratische Voraussetzung; denn ich setze voraus, daß er gewählt wird, sonst würde ich doch auch wieder zurücktreten! Nicht wahr, es muß doch Freiheit herrschen. Aber, meine lieben Freunde, Freiheit muß auch ich haben. Ich kann mir nichts aufoktroyieren lassen. Freiheit muß doch vor allen Dingen auch derjenige haben, der die Funktion ausüben soll.“[7]
Die Freiheit Rudolf Steiners besteht darin, dass er zurücktreten würde, wenn ihm der von ihm vorgeschlagene Vorstand von den Mitgliedern nicht zur Seite gestellt oder das Vertrauensverhältnis auf andere Art und Weise beeinträchtigt worden wäre.
Die Statuten dieser Gesellschaft
„… sind auf das rein Menschliche eingestellt. Sie sind nicht eingestellt auf Prinzipien, sie sind nicht eingestellt auf Dogmen, sondern in diesen Statuten ist etwas gesagt, was rein an das Tatsächliche und Menschliche anknüpft, meine lieben Freunde.“[8]
Rudolf Steiner stellt seine Initiative frei vor die versammelten Mitglieder hin, er bezieht sie ein durch die intensive Beratung der Statuten und die Beantwortung von Fragen, er erläutert jede Formulierung bis ins Detail und begründet gegenüber den Mitgliedern jede Entscheidung in Bezug auf die Vorstandsmitglieder und die Sektionsleiter. Der gesamte langwierige Prozess ermöglichte den Mitgliedern jeden Schritt vollbewusst zu durchdringen und mittragen zu können.
Die Vorstandseinsetzung wird dann durch die Mitglieder bestätigt:
„Dann bitte ich Sie, jetzt nicht durch eine Abstimmung in dem Sinne wie die früheren Abstimmungen waren, sondern mit dem Gefühl: Sie geben diesem Grundcharakter der Führung einer wirklichen Anthroposophischen Gesellschaft recht, bitte ich Sie, Ihre Zustimmung dazu zu geben, dass dieser Vorstand hier für die Führung der Anthroposophischen Gesellschaft gebildet werde.“ [9]
Auch den Statuten als Ganzes stimmen die versammelten Mitglieder am 28. Dezember 1923 zu.
Die Mitglieder bilden so in freier Selbstbestimmung nach der Initiative Rudolf Steiners mit ihm diese neue Gesellschaftsform. Es vereinigt sich das aristokratisch-esoterische Prinzip der Initiative „von oben nach unten“ aus der geistigen Welt heraus mit dem irdisch-demokratischen Prinzip, hier der Bestätigung der geschaffenen Wirklichkeit durch die Zustimmung „von unten nach oben“. So entsteht die modernste Gesellschaft, die es geben kann – „denn die modernste Gesellschaft soll eben die Anthroposophische Gesellschaft sein, die hier begründet wird“[10]
Bestand wird dieses Gebilde nur dann haben können, wenn es aus dem Bewusstsein dieser besonderen Gestalt jenseits rechtlicher Ansprüche das „Leben“ aus dem gegenseitigen Vertrauen gestalten kann.
„Man sollte sich zum Bewusstsein bringen, dass damit die Anthroposophische Gesellschaft eigentlich einen esoterischen Charakter bekommen hat; nicht mehr eigentlich eine Vereinigung wie andere ist, sondern etwas ist, was selber Anthroposophie wirken will. Das wird sie nur können, wenn dieses wirklich überall verstanden wird. Denn Anthroposophie kann wirklich nur in voller Freiheit wirken, wenn dieses Wirken überall immer auf Verständnis auftrifft. Anthroposophisches Wirken kann kein Wirken von oben herein sein, obwohl es ein Wirken sein muss, das von Initiative abhängig ist. Deshalb haben wir bei der Dornacher Tagung so stark betont, dass der dort gebildete Vorstand ein Initiativvorstand, und nicht ein Verwaltungsvorstand sein will. Man wird deshalb auf dasjenige sehen müssen, was er tut, weil ihm etwas einfällt, weil er Gedanken und Ideen hat zum Wirken, weil er ein Initiativvorstand ist. Und als solchen wird man ihn anzusehen haben als eine Art wirklichen esoterischen Mittelpunkt der anthroposophischen Bewegung. In viel höherem Grade als das bisher der Fall war, wird man anthroposophische Bewegung und Anthroposophische Gesellschaft zu identifizieren haben. Sie werden eins sein. Nur unter diesen Bedingungen konnte ich mich selber entschließen, den Vorsitz zu übernehmen und diese Gesellschaft bei der Dornacher Weihnachtstagung zu ersuchen, denjenigen Vorstand mir an die Seite zu stellen, mit dem ich glauben kann, dass ich meine Intentionen durchführen kann.“ [11]
Die eigentliche Gesellschaftsbildung entsteht in der Mitte, es ist ein lebendiger Prozess, im vertrauensvollen Zusammenwirken dadurch, dass die geistigen Impulse von den Mitgliedern ergriffen werden und sich diese um die Verbindung zur geistigen Welt bemühen. Es entstand so in diesem Zusammenwirken der Initiative Rudolf Steiners als Repräsentant der geistigen anthroposophischen Bewegung mit den sich frei in diese Gesellschaft stellenden Mitgliedern eine Art dreigliedriges Wesen. Dessen Mitte konnte als atmendes pulsierendes Leben nur in vertrauensvoller Zusammenarbeit entstehen, indem die Mitglieder die Intentionen Rudolf Steiners in Freiheit bejahen und verwirklichen und damit gleichzeitig durch ihre Arbeit aus dem Umkreis die individuellen Bausteine für das „geistige Goetheanum“ bringen.
So war die modernste Gesellschaft entstanden, die es geben kann. Was aus daraus geworden ist, soll im nächsten Jahr angeschaut werden.
Thomas Heck
[1] Zitiert nach Hella Wiesberger, GA 259, 1991, S. 843
[2] GA 260a, 1987, S. 204, Hervorhebung Thomas Heck
[3] U.a. in Dr. F. W. Zeylmans van Emmichoven: Entwicklung und Geisteskampf 1923-1935, Den Haag, 1935 oder GA 232, 1998, S. 234.
[4] GA 260, 1994, S. 39
[5] GA 262, 2002, S. 361
[6] GA 260, 1994, S. 82
[7] GA 260, 1994, Seite 82f
[8] GA 260, 1994. Seite 41
[9] GA 260,1994, Seite 162
[10] GA 260,1994, Seite 125
[11] GA 260a, 1991, S. 182f