Anhang zum Beitrag: Wer geht in die Genderfalle von Christian Breme
Biografie des Autors und zum Charakter des Beitrages
Christian Breme ist von seinem Studium am Stuttgarter Waldorflehrer Seminar bei Ernst Michael Kranich und Stefan Leber (1976 – 77) bis heute ununterbrochen in der Waldorfschulbewegung tätig. Er war 12 Jahre Klassenlehrer in Bonn, dann 25 Jahre Fachlehrer für Kunst und Naturwissenschaften an der Rudolf Steiner Schule Basel. Seit vielen Jahren ist er in der Lehrerbildung an den Seminaren in Dornach, Lausanne, Freiburg und Stuttgart tätig. Heute auch in der französischen Schulbewegung.
In seiner ausgedehnten Beratertätigkeit vor allem an schweizerischen Schulen widmete er sich dem Aufbau einer aus der Menschenkunde Rudolf Steiners heraus entwickelten Beziehungskunde,[1] die auch die Aufgaben einer sexuellen Aufklärung einschliesst. Seine Bücher wurden in Englisch und Französisch übersetzt. Das Konzept der Beziehungskunde wurde von vielen Schulen im deutschsprachigen Raum übernommen.
Christian Breme machte in einer Zeit, wo man dies in der deutschen Schulbewegung noch nicht kannte, auf das Erscheinen von transidenten Kindern und Jugendlichen aufmerksam. Durch seine Amerikaaufenthalte war ihm das Phänomen bekannt. Es folgten Vortragsreihen und Arbeitsgruppen zu dem Thema: «Das Kleid des Geschlechtes, und wenn es nicht passt.» Artikel erschienen in pädagogischen Zeitschriften: «Sind wir vorbereitet? Zur Aufgabe der Begleitung transidenter Kinder und Jugendlicher.»
Seine Aufsätze über die Würde der Scham und über das Begleiten transidenter Kinder wurde in das Buch «Beziehungskunst» des Bundes der Freien Waldorfschulen, aufgenommen. (erschienen 2022) Von den Zielsetzungen des Verlages und des Herausgebers, wie auch von den Folgepublikationen, die als Forschungsprojekt charakterisiert sind, will Christian Breme sich mit diesem Artikel entschieden distanzieren und zugleich zu einer ernsthaften anthroposophischen Forschung und vertieften menschenkundlichen Arbeit auf dem angesprochenen Gebiet aufrufen.
Im Jahr 2022 erschien das vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegebene Buch «Beziehungskunst – Menschlichkeit, Identität und Sexualpädagogik in der Waldorfschule». Zum Jahresbeginn 2024 erschien eine 60-seitige Broschüre mit gleichem Titel[2] und dem Vermerk: Eine Übersicht für Eltern und Lehrpersonen. Es ist mehr als ein Exzerpt aus den Inhalten des Buches; die Autorinnen Laura Frei (Basel) und Sophia Klippstein (Hamburg) forschten weiter, heisst es in dem Vorwort des Initiators der Broschüre, Sven Saar. Ihre Ergebnisse verdichten sie im Schlusskapitel zu einem Schulkonzept.
In beiden Publikationen zeigt sich eine Politik des Bundes der Freien Waldorfschulen, die vielen Menschen zutiefst Sorgen bereitet und die um die Zukunft der Bewegung bangen lässt. Es handelt sich um Wahrnehmungen einer zunehmenden Verflachung der Waldorfpädagogik, einer schrittweisen Distanzierung von den Quellen ihres Ursprungs, d.h. von der Menschenkunde Rudolf Steiners und einer Anbiederung an gesellschaftliche Tendenzen, die zurzeit den Mainstream bestimmen.
Buch und Broschüre haben dasselbe Motiv auf dem Umschlag: wir schauen auf etwa 20 nach oben geöffnete Hände, die zusammen eine Fläche bilden. Auf sie senkt sich ein Nebel in denFarben des Regenbogens, rot, orange, gelb, grün, blau, violett.
Die Broschüre ist ganz einer «modernen» Pädagogik in einer «veränderten gesellschaftlichen Situation» gewidmet. Im Vorwort heisst es:
«Freiheit und Glück» sind «zunehmend mit den Themen Selbstfindung, Gleichstellung und Menschlichkeit verbunden» Diese «müssen sich in Schulen und Erziehung wiederspiegeln. Daher geht es hier um viele Arten von Liebe, um Geschlecht, Gender und Gerechtigkeit»
Und weiter:
«Uns geht es um die behutsame, lebensbejahende Entwicklung aller Schüler:innen, und zu dieser gehört die Fähigkeit, mit sich selbst und den anderen erkennend und liebevoll umgehen zu können: die Beziehungskunst.»
Waren diese Fähigkeiten, sich selbst und andere zu erkennen und liebevoll mit sich und den anderen umgehen zu können nicht immer Ziele der Erziehung an Waldorfschulen? Man denke nur an Rudolf Steiners Gedanken zu den sozialen und antisozialen Trieben, die dem Wahrnehmen und pädagogischen Handeln eine neue Richtung gaben. Doch hier scheint es um etwas Anderes, etwas Neues, um eine neue Qualität zu gehen:
«Es geht um ein modernes Diversitätsbewusstsein, um ein Bewusstsein, zu dem dieses Heft und das gleichnamige Buch einen Beitrag leisten wollen.»
Wir erfahren, warum Steiner vor 100 Jahren und die sich entwickelnde Waldorfpädagogik noch nicht auf der Höhe dieses Bewusstseins stehen konnte:
«Obwohl sich die Waldorfschulen seit über 100 Jahren durch die ausgesprochene Betonung menschlicher Werte auszeichnen, sind unter Umständen bestimmte Bereiche in Theorie und Praxis zu kurz gekommen, darunter sexuelle Bildung, soziale Gerechtigkeit, moderne Identitätsbildung und politisches Bewusstsein»
Glaubten wir nicht mit der Menschenkunde eine Quelle pädagogischer Inspirationen und praktischer Innovationen zu haben, die noch lange nicht ausgeschöpft ist? Doch dazu heisst es:
»Auch in Rudolf Steiners Schriften und Vorträgen finden sich ambivalente und gegensätzliche Aussagen, auf die sich sowohl progressive als auch konservative Stimmen beziehen können. Dadurch hat ein modernes Diversitätsbewusstsein bisher schwerer gehabt, sich durchzusetzen, als nötig.»
Der Schreiber des Vorworts, Sven Saar, ist Gründer und Coleiter von Waldorf Modern, eines englischen Waldorfinstituts, das Seminare und online Kurse durchführt und der Lehrerbildung dient. Die Modernisierung der Waldorfpädagogik ist ihm ein zentrales Anliegen. So formuliert er in dem Vorwort Überlegungen zu einer Überwinden des seiner Meinung nach in Waldorfkreisen noch vorherrschenden normativen Denkens. Gemeint ist das Denken in den binären Kategorien Mann-Frau und die Abwertung alles dessen, was nicht in dieses Schema passt. Er fordert auf, auch an den Waldorfschulen in Zukunft mehr woke[3] zu sein, «d.h. wach zu werden für die Anforderungen der Umwelt, ….»
Der programmatische Text gipfelt in der emphatischen Feststellung:
«Beziehungskunst feiert die Vielfalt.»
Was mag das bedeuten, fragen sich die Leserin, der Leser. Wen sollen wir feiern?
Wer diesen Satz bei Google eingibt kommt zu unzähligen Ankündigungen immer gleichen Inhalts:
Berlin feiert die Vielfalt, München feiert die Vielfalt, Hamburg, Basel, Zürich feiern die Vielfalt. Save the date: 27. Juli (Berlin), 22. Juni (München), 3. August (Hamburg), 29. Juni (Basel). Reservieren Sie sich den Tag für den Christopher Street day (CSD). Walk, Drag Brunch, Queer Talk, Party…- eine amerikanisierte, englischsprechende Mischung aus politischem Statement gegen jegliche Unterdrückung und moderner, ausgelassener Unterhaltungskultur im öffentlichen Raum.
Auch die Freien Waldorfschulen sollen in Zukunft die Vielfalt feiern… ???
In dem Buch «Beziehungskunst», in dem dieser Aufruf zum ersten Mal erschien, findet ma, dass nicht wenige Artikel illustriert sind mit Bildern von solchen Love-Paraden am Christopher Street Day. Sie zeigen Kinder und Jugendliche mit regenbogengfärbten Haaren, mit regenbogenfarbig geschminkten Wangen, mit regenbogenfarbenen Blumen und Umhängen. Die Bildnachweise kommen aus dem englischsprachigen Raum. War es während der Love-Parade in New York, in Seattle oder in London? Sind es Waldorfkinder, die auf den Bildern zu sehen sind? Man zweifelt. Wird man solche Bilder auch in Berlin bei dem Christopher Street Day machen können, oder in Hamburg oder in Zürich. In jedem Fall ist es nicht der Schulalltag.
Ist es Aufgabe der Waldorfpädagogik, Vielfalt zu feiern?
Will der Bund der Freien Waldorfschulen in Deutschland und will seine Forschungsstelle, alle Lehrer und Eltern in diese Richtung weisen? Liegt in dieser bewussten und begeisterten Einbettung der Waldorfpädagogik in den von der LGBTIQ-Bewegung dominierten Mainstream etwa das, was wir unseren Schülerinnen und Schülern schulden?
Wer in der Praxis steht oder gestanden hat, weiss, dass viele Kinder Hilfe und Unterstützung brauchen. Diejenigen mit einem Handicap, diejenigen mit einer begrenzten intellektuellen Fähigkeit, diejenigen, die auf eine Missbrauchserfahrung zurückschauen, diejenigen, deren Umfeld keine ausreichende Bindung bereitstellt und vermehrt diejenigen, die eine Flucht- oder Migrationserfahrungen hinter sich haben. Eben erfuhren wir noch, dass Jugendliche zu 80% von starker oder moderater Einsamkeit betroffen sind.[4] Zu diesen vielen Verschiedenheiten, die unsere besondere Zuwendung erfordern, sind auch die zu zählen, welche Kinder und Jugendliche betreffen, die eine andere als heterosexuelle Orientierungen haben. Und die, welche mit ihrem biologischen Geschlecht sich nicht identifizieren können, die sich beschämt fühlen, wenn ihre Situation nie eine wertschätzende Erwähnung im Unterricht erfährt. Aber ist dies schon ein hinreichender Grund, Vielfalt zu feiern?
In diesen zuletzt genannten Situationen liegen pädagogische Aufgaben, die wir nicht übersehen dürfen. Eine Ausgrenzung auch schon durch die Kindergruppe würde das Soziale der ganzen Klasse betreffen.
Die Aufgabe ist nicht neu. Wir können auf Erfahrungen und Initiativen blicken:
Ich weiss von der immer unterstützenden Begleitung von Schülern und Schülerinnen, die sich mit ihrem Geburtsgeschlecht nicht verbinden können, in vielen Kindergärten und Schulen. Ich denke an die rasche Verbreitung eines für den Unterricht geschriebenen Lesebuches[5], welchem auch die Entwicklung eines Jungen geschildert wird, der das Gefühl hatte, ein Mädchen zu sein. Das gab in vielen Klassen Anlass zu Verständnis und Empathie. Ich erinnere vertrauensvolle und offene Gesprächen mit homosexuellen Schülern und Schülerinnen. Immer schon gab es Homosexuelle Lehrerinnen und Lehrer in unseren Kollegien. Sie wurden von der Schülerschaft gekannt und von homosexuellen Kindern und Jugendlichen als Gesprächspartner gesucht und geschätzt. Es gab schon die Lehrer und Lehrerinnen, die für jede Orientierung und Diversität Brücken bauten.
Es brauchte dafür nicht eine neue Menschenkunde. Es brauchte nur das Ernstnehmen des Erziehungsauftrages an Waldorfschulen, welcher die abendliche Schülerbetrachtung der Unterrichtenden, die gemeinsame Schülerbesprechung am Donnerstag und den herzhaften täglichen Schülerkontakt bedeutet.
Neue Aufgaben verlangen eine Vertiefung des Menschenverständnisses, eine Vertiefung der Menschenkunde
Will man die Zunahme von Transidentität und Intersexualität, die in unserem Kulturkreis eher ungewohnte Erscheinungen sind, verstehen, so bedarf es einer Vertiefung der menschenkundlichen Erkenntnis und eines Blickes darüber hinaus, auf andere Gebiete, die Steiner erforschte. Die geschichtliche Symptomatologie und die Prozesse des Vorgeburtlichen stehen vom Erkenntnisproblem her auf derselben Stufe wie die zu beobachtende heute fast allgemeine Lockerung des Verhältnisses von Leib und Seele und ein gehäuftes Auftreten von Dissonanzen zwischen den Wesensgliedern. Inkarnationsprozesse müssen in die Betrachtung und in das Denken einbezogen werden. Es bedarf nicht einer neuen oder anderen Anthropologie. Unser Kapital ist die Menschenkunde. Auf sie bauen sich Methodik, Didaktik und individuelle Konstitutionserkenntnis.
Wir betrachten die Entwicklung im Kindesalter als die Fortsetzung vorgeburtlicher Prozesse. Wir denken und beobachten den Inkarnationsvorgang eines Menschen in ein vielschichtiges Leibesgefüge. Wir gehen von wechselnden Inkarnationen aus – einmal in einem männlich, einmal in einem weiblich erscheinenden Leib. Dieser Leib ist aber, wenn wir durch die äussere physische Erscheinung auf die innere Struktur schauen, in jedem Fall zweigeschlechtlich. Das ist das Revolutionäre der anthroposophisch-menschenkundlichen Anschauung. Ein männlicher physischer Leib wird aufgebaut und getragen von einem weiblichen Ätherleib. Ein weiblicher Physischer Leib darf sich getragen wissen von einem männlichen Ätherleib. Beide Leiber sind durchlebt von einem immer zweigeschlechtlichen Astralleib. Und als Souverän in dem und um den Menschen ist zu denken die übergeschlechtliche Individualität.
Die Menschenkunde der Waldorfschule hat damit einen Schlüssel in der Hand, um die Vielfalt, die sich heute zeigt, begreifen zu können.
Das Programm der modernen Waldorfpädagogik – sie nennt sich hier Beziehungskunst – versucht seit Jahren mit einem missionarischem Eifer Einzug in die Schulen zu halten. Das bereitet grosse Sorgen. Bei Schulbesuchen kann ich erfahren, wie dieser neue Zug das Klima bestimmt und einen Anpassungsdruck erzeugt, der in einem woke-Sein Zensur und Selbstzensurbewirkt. Nach einigen Pensionierungen und Neueistellungen sindganze Kapitel der Menschenkunde in der Konferenz nicht mehr besprechbar, ohne dass der Vorwurf des normativen Denkenserscheint.In der Zeit der Erdenreife erröten die Mädchen und erblassen die Jungen, so eine Bemerkung Rudolf Steiners.Wagt es jemand, der es durch eigene Beobachtung bestätigen kann, dies noch auszusprechen?
Link zum ersten Teil des Beitrages:
Weiterführende Hinweise zum Thema über diesen Link
[1] Der Begriff Beziehungskunde stammt von Dr. Anne-Sophie Evison, die ihn als für einen menschenkundlichen Zugang zu den Aufklärungsfragen 2008 zum ersten Mal formulierte, als sie Schulärztin an der Rudolf Steiner Schule Basel war. Der Begriff wurde von Christian Breme durch Vorträge, Publikationen, Seminare im ganzen deutschsprachigen Raum verbreitet. Die Umdeutung in «Beziehungskunst» verkehrte ihn in sein Gegenteil.
[2] Die Broschüre kann hier heruntergeladen werden: https://www.waldorfschule.de/fileadmin/downloads/Blickpunkte_Reader/beziehungskunst_Web_2024_web.pdf
[3] Woke, eine in den 2010er Jahren an amerikanischen Universitäten entstandene Haltung, die sich durch eine höchste Wachsamkeit im Aufdecken subtilster Verletzungen durch rassistische, homophobe, … Äusserungen auszeichnet.
[4] Jugendeinsamkeitsstudie, Berlin, Nov. 2023
[5] «Das Geheimnis der Matrioschka», Christian Breme, Ikaros Verlag Basel.